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Siemens

Entlassungen trotz Rekordgewinn

Markus Lehner, Neue Internationale 98, März 2005

Am 27.Januar jubelten die Aktionäre auf der Siemens-Hauptversammlung dem scheidenden Vorstandsvorsitzenden Pierer wegen neuer Rekordgewinne zu. Hatte der Konzern schon im Vorjahr mit 3,4 Mrd. Euro Bilanzgewinn zugelegt, so war dies im ersten Quartal des neuen Geschäftsjahres durch 38% Gewinnsteigerung noch überboten worden. Trotzdem erklärten die Aktionärsvertreter und der neue Vorstandsvorsitzende Kleinfeld, dass die "Zukunft des Konzerns" nur durch einschneidende Maßnahmen in den "Problemsektoren" gesichert werden könnte.

Die AktionärsvertreterInnen gehen nicht nur bei der Deutschen Bank von immer abenteuerlichen Verhältniszahlen zwischen eingesetztem Kapital und Gewinnmargen aus. Auch bei Siemens werden inzwischen Mindestrenditen für die einzelnen Bereiche vorgegeben.

Falls diese nicht erreicht werden, würden die Renditeziele des Gesamtkonzerns gefährdet, damit der Börsenwert des Unternehmens sinken und Übernahme, Zerschlagung, vielleicht gar der Untergang drohen. So werden schlechte Zahlen in einem Teilbereich sofort zu "existenziellen Bedrohungen" aller Arbeitsplätze hochgespielt.

Daher wird im "Siemens Management System" ein Mechanismus festgelegt, wie auf das Verfehlen von Renditezielen reagiert wird. Dies wird dann in den Optionen "Kostenreduktion", "Kooperationspartner suchen", "Verkaufen", oder "Schließen" zusammengefasst. Dabei meint Kostensenkung meist massiven Personalabbau in "Hochlohnländern" kombiniert mit eventuellen Verlagerungen in "Billiglohnländer" - oder die Erpressung des Tarifbruchs, wie er in der Handy-Produktion in Kamp-Lintfort und Bocholt mit der Ausdehnung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden vorgeführt wurde.

Helfen diese Maßnahmen nicht, wird ganz ausgegliedert oder ein "verschlankter" Teil in eine Kooperation mit einem anderen Konzern abgeschoben. Als letzte Drohung steht die Schließung eines ganzen Bereichs. Die groß zelebrierte "Kostensenkung" in der Handy-Produktion hatte nichts an den schlechten Erträgen dieser Sparte geändert - das Problem lag eben (welch Wunder!) nicht bei den Lohnkosten (nur 5% der Gesamtkosten eines Handys), sondern in schlechtem Management und schlecht geplanter Produkteinführung und -entwicklung sowie weltweiten Überkapazitäten.

Krisenszenario

Nachdem die Sparte also weiterhin täglich einen Verlust in Millionenhöhe einfährt, wird trotz groß angekündigter "Beschäftigungssicherung" nun seit Ende Dezember wieder von Verkauf, Suche nach einem Kooperationspartner (im Gespräch ist z.B. der chinesische ZTE-Konzern) oder Schließung geredet. Ein Musterbeispiel dafür, was die Zugeständnisse bei der Aufweichung von Tarifverträgen zur "Beschäftigungssicherung" bringen! Wieder einmal wurde bewiesen, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze sichert, sondern nur die materiellen Bedingungen der Lohnabhängigen insgesamt verschlechtert und die Betroffenen unter sehr viel schlechteren Bedingungen arbeitslos werden.

Auch ein anderer Teil des Kommunikationsbereichs ist ins Fadenkreuz der Kosten-Reduzierer gekommen. Nur einen Tag nach der Verkündung des Rekordgewinns wurde in Mitarbeiterversammlungen in München und Berlin von der Bereichsleitung der Abbau von 650 Stellen in der Festnetz-Sparte angekündigt. Auch hier hat es durch gravierende Management- und Entwicklungsfehler größere Verluste im Bereich der Elektronikprodukte für Übertragungs- und Anschluss-Technik gegeben (z.B. bei der Elektronik für Breitbandnetz-Infrastruktur).

Das Management bemühte hier nicht einmal mehr die Ausrede von "zu hohen Lohnkosten", sondern rechtfertigt die Maßnahmen als "notwendige Anpassungen" an "schwierige Marktbedingungen". Tatsächlich sind es gerade die immer absurderen "Kostenreduktions"-, "Umstrukturierungs"- und "Verlagerungsmaßnahmen", die zu enormen Problemen in Entwicklungs- und Produktionsprozessen führen, und im Resultat Produkte hervorbringen, die schlicht und einfach Mist sind.

Die Desaster von Toll-Collect, Combino & Co. sind letztlich alle Resultat der irrationalen, kurzfristigen "betriebswirtschaftlichen" Kostenreduktions-Politik, die sich um die qualitativen Bedingungen von Produktions- und Entwicklungsplanung immer weniger schert. Die "Markt-liberale Revolution" frisst so letztlich ihre eigenen Kinder.

Dabei handelt es sich nicht (oder nicht nur) um die Dummheit der Manager; hier wird vielmehr die Irrationalität eines Wirtschaftssystems sichtbar, das sinnvolle Gebrauchswerte nur indirekt, über die Vermittlung der Kapitalverwertung als primärem Zweck hervorbringt. Der Zwang, die Kapitalverwertung trotz sinkender Profitraten auf hohem Niveau zu halten, führt immer mehr zur systematischen Untergrabung der produktiven Basis des Kapitals.

So wird im Kommunikationsbereich nicht etwa eine "nicht zukunftsfähige" Technik aufgegeben, die dann traditionell in ein "Billiglohnland" abgeschoben wird. Nein, hier werden Bereiche aufgegeben, die laut einer viel zitierten Studie des Frauenhofer Instituts zu den Gebieten zählen, in denen "Innovation" und "technischer Fortschritt" am meisten konzentriert sein wird. Die hier von Entlassung bedrohten KollegInnen sind daher auch meist hochqualifizierte Facharbeiter und Ingenieure.

Im Berliner Werk kam es nach der Verkündung der Entlassungsdrohung am 1.Februar zu einer Arbeitsniederlegung, die wesentlich durch die Mobilisierung der IG-Metall- Vertrauensleute getragen war. Etwa 400 der 600 Beschäftigten des Werkes beteiligten sich am Warnstreik (d.h. der Großteil der Frühschicht). Auf der Kundgebung wurde der Verzicht auf Entlassungen angesichts des Rekordgewinns und eine langfristige (nicht shareholder-value-bestimmte) Investitions-Politik gefordert.

Im Anschluss an die Kundgebung wurde spontan der sechsspurige Siemensdamm besetzt, was ein heftiges Verkehrschaos im Nordwesten Berlins erzeugte. Die sonst als nicht besonders radikal geltenden Siemens-ArbeiterInnen scheuten sich nicht vor der Auseinandersetzung mit den überforderten Berliner Polizisten. Auch das zeigt die Entschlossenheit zu weiterem Widerstand.

Nicht zuletzt aufgrund der negativen Presse und dem drohenden Widerstand der Beschäftigten scheint der Konzern inzwischen auf eine andere Taktik eingeschwenkt zu sein: statt Entlassungen wird jetzt nach dem Muster von Opel versucht, eine größere Zahl von KollegInnen über "großzügige Angebote" zum "freiwilligen" Gehen zu bewegen. Nicht verwunderlich entspricht dies auch der Linie des Gesamt-Betriebsrates, der für die drei betroffenen Standorte verhandelt, und der IG Metall, die zur "Unterstützung" der Verhandler dieselben "Experten" wie bei Opel geschickt hat.

So verständlich die Erleichterung vieler KollegInnen ist, dass betriebsbedingte Kündigungen zunächst verhindert worden sind, muss doch entschieden gewarnt werden: Wie Kamp-Lintfort/Bocholt zeigt, sind solche Zusagen des Managements unter den heute gültigen Renditezielen von äußerst kurzer Dauer. Auch mit dem "freiwilligen Abbau" werden nicht nur zig KollegInnen in eine äußerst unsichere Zukunft geschickt; es wird auch eine hoch-komplexe Produktionsstätte derart ausgedünnt, dass die weiteren Optionen "Verkauf", Ausschlachtung oder Schließung damit nur vorbereitet werden!

Die Wirksamkeit der ersten Warnstreikaktion hat gezeigt, dass sich Widerstand lohnt. In der entsprechenden Produktion werden teuerste Anlagen und Lagerbestände verwendet, die Siemens unbedingt verwerten will, sollen nicht höhere Verluste eingefahren werden. Dies zeigt sich auch darin, dass das Werk - trotz der Entlassungsdrohung - zu 100% ausgelastet ist, und gar Überstunden gemacht werden sollen. Gegendruck und weitere Aktionen sind also möglich - auch die Bereitschaft der KollegInnen ist da. Der Kampf kann und muss geführt werden, bis die Stellenstreichungen insgesamt vom Tisch sind!

Wie schon die Konflikte bei Daimler-Chrysler und Opel gezeigt haben, ist von den bestehenden Betriebsrats- und Gewerkschaftsspitzen eine solche Kampfperspektive nicht zu erwarten. Um so wichtiger ist es, selbst aktiv zu werden, die Vertrauensleutestrukturen zu stärken, Kampfkomitees zu bilden und Kontakte zu anderen Belegschaften aufzubauen. Nur mit massivem Druck durch Basis-Organisationen wird es auch möglich sein, die Blockade der Co-Manager in den Betriebsräten zu durchbrechen und zu wirksame Gegenwehr gegen einen immer aggressiveren und irrationaler werdenden Kapitalismus zu formieren.

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Nr. 98, März 2005

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*  Baskenland: Stoppt die Repression!
*  Siemens: Entlassungen trotz Rekordgewinn
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*  Politisch-ökonomische Perspektiven: 2005 - ein Jahr der Entscheidung?
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