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Herbst 1989: Ende der DDR

Halbe Revolution,
ganze Konterrevolution

Hannes Hohn, Neue Internationale 95, November 2004

"Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf", posaunte Honecker noch im Oktober 1989. Doch als sich Hunderttausende gegen die Herrschaft von SED und Stasi auf die Straße trauten, war es mit deren Herrschaft schnell vorbei. Nach Honecker und Mielke kamen Kohl und die Marktwirtschaft.

Im Nachhinein sieht es so aus, als ob auch in der DDR der Kommunismus gescheitert wäre und der Kapitalismus als einzige Alternative quasi naturgemäß danach folgen musste.

Aber trotz aller Etikette von "realem Sozialismus" und "entwickelter sozialistischer Gesellschaft", welche die SED der DDR verpasste, war sie nicht sozialistisch, sondern eine Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Einerseits waren zwar wesentliche Grundlagen des Kapitalismus (Privateigentum an Produktionsmitteln, die Bourgeoisie als Klasse, Markverhältnisse) überwunden. Andererseits war die DDR jedoch keine Gesellschaft, in der die ProduzentInnen und KonsumentInnen demokratisch über die Gestaltung ihrer Verhältnisse entschieden. Die Arbeitsproduktivität lag unter dem Niveau der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder, so dass auch deshalb von einer "kommunistischen" Gesellschaftsqualität nicht gesprochen werden kann.

Geburtsfehler

Ein sozialistisches Deutschland war keineswegs das Ziel der Nachkriegsstrategie Stalins (und natürlich auch nicht der Westmächte). Die sowjetische Bürokratie wollte vielmehr ein neutrales, bürgerlich-demokratisches (Gesamt)Deutschland als Pufferstaat zwischen der UdSSR und dem Kapitalismus schaffen. Erst als diese utopische und antirevolutionäre Konzeption an der Unvereinbarkeit der Systeme scheiterte, wurde dieser Kurs geändert.

Was folgte, war aber keineswegs eine Revolution, d.h. die bewusste Aktion der Massen zur Zerschlagung der alten und der Errichtung neuer Machtverhältnisse. Was folgte, war eine antikapitalistische Umwälzung von Oben auf bürokratische Art.

"Alle Macht den Sowjets" forderte 1917 Lenin. "Ein Sowjetsystem steht nicht auf der Tagesordnung", verkündete 1945 Ulbricht, der KPD-und spätere SED-Chef von Moskaus Gnaden. Das Fehlen von Sowjets (Räten) aber bedeutete, dass die Arbeiterklasse über keine brauchbare Machtstruktur verfügte, die eine demokratische Artikulation ihrer politischen Ambitionen und eine breite Entfaltung ihrer schöpferischen Potentiale ermöglicht hätte.

Statt des Rätesystems, d.h. eines ganz neuen Typs von Staat, installierten die SED und die sowjetische Militäradministration ein pseudo-demokratisches bürokratisches, vom Typ her bürgerliches Staatswesen. Der alte bürgerliche Staatsapparat wurde modifiziert, personell gesäubert und die faschistischen Organisationen zerschlagen, doch die Staatsmaschinerie wurde nicht im Marxschen Sinn "zerschlagen" und durch einen proletarischen Halbstaat (die Rätedemokratie) ersetzt - es gab nach wie vor einen gesonderten, privilegierten Apparat, der die Geschicke der Gesellschaft lenkte und die Massen von der direkten Machtausübung ausschloss. Die Spitze der Machtpyramide war ein Klüngel alter Männer - das Politbüro.

Auf Basis der ab 1949 etablierten Staatsindustrie und der bürokratischen Planung gelang es, eine leistungsfähige Wirtschaft und etliche soziale Verbesserungen zu erreichen. In vielen Bereichen waren Gesellschaft und Ökonomie nicht nur sozial "verträglicher", sondern auch wirtschaftlich effizienter als im Kapitalismus organisiert. Doch nach den großen strukturellen Umbrüchen der Nachkriegsjahre gab es später keine solchen Schübe mehr.

Schon im Juni 1953 zeigte der Arbeiteraufstand, dass der bürokratische Zickzackkurs, der Dirigismus gegenüber dem Proletariat und der Mangel an Demokratie auf wenig Resonanz der Massen stieß. Ein Teil ging in den Westen, ein anderer blieb und orientierte sich immer mehr auf die Ausgestaltung der privaten Nische.

Aufstieg und Krise

Der seit Ende den 1970er Jahren immer größer werdende Rückstand der DDR-Ökonomie zur Weltspitze, die immer spürbarere Stagnation sind jedoch nicht einfach Resultat der "Unmöglichkeit" einer nichtkapitalistischen Planwirtschaft. Sie resultieren vielmehr aus der von Beginn an bürokratischen Entartung.

Was für die DDR im Inneren, galt umso mehr für die internationalen Beziehungen. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als makroökonomische Struktur des Ostblocks hatte nie eine wirklich effektive internationale Arbeitsteilung und Entwicklungsstrategie, sondern war von den diversen Egoismen der nationalen Bürokratien und den Dominanzinteressen Moskaus geprägt. Insofern blieb die Internationalisierung der Produktion unter dem Niveau der westlichen, kapitalistischen Hemisphäre, statt deren Level zu übersteigen.

Letztlich entscheidend war aber, dass die zentrale Produktivkraft - die Arbeiterklasse selbst - kaum Einfluss auf "ihre" Wirtschaft hatte und deshalb zunehmend demotiviert wurde.

Spätestens mit dem Amtsantritt Gorbatschows 1985 mehrten sich auch in der DDR die Hoffnungen auf Reformen innerhalb des Systems. In scharfem Kontrast dazu stand die Betonköpfigkeit von Honecker und Co. Immer deutlicher zeigte sich, dass die herrschende bürokratische Kaste unfähig ist, die Gesellschaft weiter zu entwickeln - sie verwaltete lediglich den Mangel. Trotzkis Einschätzung der Bürokratie aus den 1920er Jahren stimmte: sie war ein Krebsgeschwür am Leib des (degenerierten) Arbeiterstaates.

Die DDR - ein halber Sozialismus in einem halben Land - näherte sich immer schneller ihrer Halbwertzeit: Entweder eine politische Revolution stürzt die Bürokratie zugunsten einer wirklichen Arbeiter-Räte-Demokratie und treibt den Prozess der Weltrevolution weiter voran oder aber die Bürokratie selbst bereitet der Restauration des Kapitalismus den Weg.

Von "Wir sind das Volk" …

Erste öffentliche Proteste gab es bereits im Spätsommer 1989 als Reaktion auf die Fluchtwelle in den Westen über die inzwischen geöffnete Westgrenze in Ungarn und die hämischen Kommentare der Führung, die meinte, wem es in der DDR nicht passe, der könne ja gehen.

Entgegen dieser dummdreisten Ignoranz skandierten die DemonstrantInnen "Wir bleiben hier". Damit stellten sie sich nicht nur gegen die Illusion vom Glück im "Goldenen Westen", sondern auch gegen die Führung der DDR. Auch die danach - zuerst in Leipzig - losbrechenden Montagsdemonstrationen sprachen sich keineswegs für eine Wiedereinführung des Kapitalismus oder die Wiedervereinigung aus. Vielmehr forderten sie freie Wahlen, Demokratie, Transparenz, das Ende der Alleinherrschaft der SED sowie die Auflösung der Stasi. Die verbreitete Losung "Stasi in die Volkswirtschaft" drückt treffend aus, dass die Massen Veränderungen innerhalb des "Sozialismus" wollten.

Die Mehrzahl der DemonstrantInnen waren ArbeiterInnen. Doch wie schon das zentrale Motto vom Herbst 1989 "Wir sind das Volk" zeigt, traten die ArbeiterInnen nicht als eigenständige Klassenkraft auf - weder organisatorisch noch programmatisch. Das erklärt sich v.a. daraus, dass es keine organisierte politische Opposition in der DDR gab, die in relevanten Teilen der Klasse verankert gewesen wäre. Zudem waren 40 Jahre Stalinismus mit politischer Entmündigung, Gängelei und fast vollständig fehlenden eigenständigen Klassenaktionen bzw. Kämpfen nicht spurlos am ostdeutschen Proletariat vorüber gegangen: sein Klassenbewusstsein war weitgehend verschüttet.

Kein Wunder, dass sich unter diesen Umständen Leute an die Spitze setzen konnten, die überwiegend aus den Mittelschichten kamen. Führende Kraft der ersten Stunde war das "Neue Forum" - ein heterogenes Bündnis, das über kein klares Programm verfügte. Es trat in erster Linie für demokratische Reformen des DDR-Systems ein. Ein ökonomisches Programm hatte es am Beginn überhaupt nicht, da es ursprünglich die Krise als rein politische Krise auffasste.

… zu "Wir sind ein Volk"

Die neue SED/PDS-Führung unter Krenz und Modrow versuchte, trotz Demokratisierung möglichst viel von ihrer Macht zu behalten. Die Gründung der Treuhand unter Modrow war der Versuch, die Wirtschaft nach und nach zu privatisieren und westliches Kapital anzuziehen. Darin drückt sich der Versuch der Bürokratie aus, auch in einem bürgerlichen System zur Nomenklatura zu gehören. Doch bekanntlich "bringt in Zeiten höchster Not der Mittelweg den Tod". Modrows Krisenmanagement löste kein Problem - der Unmut der Massen wurde immer größer.

Die ArbeiterInnen hatten in vielen Betrieben quasi eine Doppelmacht mit dem alten Management geschaffen, das für einige Wochen keine reale Entscheidungsbefugnis mehr hatte. In etlichen Betrieben wurde - v.a. in Sachsen - ein Generalstreik gefordert. Aber diese Bewegung blieb mangels einer politischen Führung und eigener Mobilisierungsstrukturen ohnmächtig.

Als keine andere Lösung in Sicht war, richteten verständlicherweise immer mehr Menschen ihren Blick nach Westen. "Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr", war ein geflügeltes Wort jener Tage. Dieser Umschwung der Stimmung drückt sich im verwandelten Slogan des "Wir sind ein Volk" aus.

Die Stufenpläne Modrows und Kohls zur Wiedervereinigung waren von der Dynamik der Ereignisse bald überholt. Die Situation drängte nach einer schnellen Lösung: entweder ein wiedervereinigtes kapitalistisches Deutschland oder die Weiterführung der begonnenen politischen Revolution zur Befreiung des von den Stalinisten in ein Prokrustesbett gezwungenen Abeiterstaates.

War eine revolutionäre Perspektive aber realisierbar? Selbst wenn die Massen Anfang 1990 einen Schritt weiter gegangen wären, hätte sich bald erwiesen, dass auch ein "gesundeter" Sozialismus in der kleinen DDR keine Perspektive gehabt hätte und bald isoliert worden wäre. Doch ein energischer Griff der Arbeiterklasse zur Macht, die - wie es treffend hieß - "auf der Strasse lag" hätte ein klares Signal auch für die ArbeiterInnen anderer Länder des Ostblocks, die vor ähnlichen Problemen standen, sein können.

Alternativen

Vor allem hätte sie für das westdeutsche Proletariat, das die Vorgänge in der DDR durchaus mit Sympathie verfolgte, ein Fanal sein können, sich gegen die eigenen Machthaber zur Wehr zu setzen und ihre ostdeutschen Klassengeschwister direkt zu unterstützen. Der politische Kurswechsel Kohls Richtung schneller Wiedervereinigung Anfang 1990 ist auch vor dieser "gefährlichen" Perspektive zu sehen. 1989/90 gab es in der DDR ja durchaus Ansätze von betrieblichen Machtorganen. Doch mit der Etablierung der "Runden Tische" war es damit bald vorbei.

Es gab damals keine Partei bzw. keine Organisation mit Einfluss, die eine Perspektive der revolutionären Wiedervereinigung - d.h. eine Verbindung von politischer Revolution im Osten mit einer sozialen im Westen hatte. Dieses Dilemma der (Gesamt)deutschen Arbeiterklasse führte dazu, dass in einer rasch hoch schwappenden nationalistischen Welle die deutsche Wiedervereinigung vollzogen wurde und der erste deutsche Arbeiterstaat verschwand.

Damit wurde auch der Boden bereitet für ein reales Erstarken des deutschen Imperialismus in den 1990er Jahren und ein Spaltung der Arbeiterklasse in Ost und West. Eine wesentliche Aktie an dieser strategischen Niederlage des gesamten deutschen Proletariats hat auch die Führung des DGB, der zwar Millionen neuer ostdeutscher Mitglieder hinzu gewann, aber nichts dafür tat, die Massen - in Ost und West (!) - gegen die Ruinierung der ostdeutschen Wirtschaft und das Abwälzen der "Kosten der Widervereinigung" auf die westdeutsche Arbeiterklasse zu bekämpfen.

Wie heute im Fall von Hartz und Agenda waren die führenden BürokratInnen des DGB auch damals außerstande, die Zeichen der Zeit zu erkennen und eigene Zeichen des Widerstandes zu setzen.

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Nr. 95, November 2004

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