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Wahlen in Frankreich

Antikapitalismus mit Reformprogramm?

Mathieu Roux, Neue Internationale 86, Dezember 2003/Januar 2004

Eine Woche vor Beginn des Europäischen Sozialforums haben die beiden bekanntesten trotzkistischen Organisationen Frankreichs, Lutte Ouvriére (LO) und die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), eine gemeinsame Kandidatur zur Europawahl und zu den Regionalwahlen beschlossen.

Die Wahlprognosen für die gemeinsame Liste sind sehr gut - 10 bis 20%, je nach Umfrage. Selbst an der deutschen bürgerlichen Presse ging das nicht vorbei. Der Grundtenor: eine Mischung aus Verwunderung und Erschrecken darüber, dass Millionen Einwohner des wichtigsten imperialistischen Verbündeten Deutschlands für "revolutionäre Politik" stimmen könnten.

Dabei ist diese Entwicklung in Frankreich keineswegs ganz neu. Schon bei den EU- und Regionalwahlen 1998 und 1999 hatten sich LO und LCR auf eine gemeinsame Liste geeinigt und fünf Sitze im Europaparlament sowie ein paar Dutzend regionale Mandate errungen. Das hat die französische Bourgeoisie jedoch noch wenig schockiert.

Das damalige Programm hatte keineswegs einen revolutionären Charakter, zielte also nicht auf die Mobilisierung der arbeitenden Massen zum Sturz des Kapitalismus. Es sprach nur vage von der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden. Ansonsten beschränkte es sich auf Forderungen, die in jedem links-reformistischen Programm zu finden sind und die nicht über das bestehende System hinauswiesen. Es beinhaltete keine Verbindung zwischen dem Ziel, den Kapitalismus zu überwinden, und den unmittelbaren Reformforderungen.

Forderungen nach der Mobilisierung der Massen, der Schaffung unabhängiger, von der Basis kontrollierte Kampforgane und nach Arbeiterkontrolle fehlten damals vollständig, da LO und LCR fürchteten, dass solche Losungen dem (vermeintlichen) Bewusstsein der reformistischen ArbeiterInnen, die bis dahin in der Regel die Kommunistische Partei (PCF) oder die Partie Socialiste (PS) unterstützt hatten, nicht entsprechen würden.

Es wurde also aus opportunistischen Gründen essentielle Teile jedes revolutionären Programms fallen gelassen. Statt also die Wahlkampagne zu nutzen, um das Bewusstsein der reformistischen ArbeiterInnen zu heben, passten sich die "Revolutionäre" von LO und LCR an ebendieses an.

Im Jahr 2004 könnten LO/LCR ihre damaligen Wahlerfolge deutlich übertreffen. Rund ein Drittel der französischen WählerInnen erwägt, für diese Liste zu stimmen. Damit könnte sie 20 bis 25 EuropaparlamentarierInnen stellen und könnte zu einem wichtigen Machtfaktor in einigen Regionalversammlungen werden.

Die LCR hat in den letzten Jahren ihr öffentliches Erscheinungsbild geändert. Ihr Spitzenkandidat ist ein junger, dynamischer Postarbeiter, Olivier Besancenot. LO und ihre Spitzenkandidatin Arlette Laguiller, erscheinen demgegenüber als ruhender, immer gleich bleibender Pol in einer sich verändernden Welt.

KPF und PS

In jedem Fall hat sich das Verhältnis der französischen Arbeiterklasse zu "ihren" traditionellen Parteien, KPF und PS, dramatisch verändert. Beide haben in den letzten Wahlgängen neue, geradezu historische Tiefstwerte erreicht. Bei den Präsidentschaftswahlen erhielt die KPF deutlich weniger Stimmen, als für LO/LCR abgegeben wurden. Der Kandidat der PS, der Premier Jospin, war mit dem dritten Platz in der ersten Runde durchgefallen.

Die KPF kann sich schon lange nicht mehr auf ihre historischen Verbündenten - die Bürokratien der UdSSR und der Gewerkschaft CGT verlassen. Während die UdSSR unterging, hat die CGT ihre formelle Bindungen zur Partei gekappt, um nicht mit dieser unterzugehen. Die KPF hat sich mittlerweile fast zu Tode "sozialdemokratisiert".

Heute kontrolliert sie nur noch einige Städte mit hohem Arbeiteranteil. Selbst ihre einstigen Hochburgen wie die "roten" Vororte von Paris bröckeln. So steht die KPF vor der Frage, ob sie bei den Wahlen gemeinsam mit der PS kandidiert, sich dieser politisch ganz unterordnen und damit ihren endgültigen Untergang riskieren soll - oder ob sie allein antreten und den Verlust fast aller Sitze riskieren soll.

Die PS hat zwar noch immer eine weitaus größere Wählerbasis als die KPF und kontrolliert einige wichtige Regionen. Aber politisch ist seit der vernichtenden Wahlniederlage Jospins 2002 praktisch kopf- und führungslos. Die PS wird korrekterweise als Technokratenpartei wahrgenommen, die die Interessen der Bosse verteidigt. Selbst ihre bekanntesten "Reformen" wie die Einführung der 35-Stunden-Woche gingen noch auf Kosten der ArbeiterInnen, indem die Arbeitszeit drastisch flexibilisiert und die Unternehmer für die 35-Stunden-Woche mit massiven Subventionen entschädigt wurden.

Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass die Verankerung der PS und der KPF in der Arbeiterklasse, ja in der Bevölkerung dramatisch erodiert. Eine wachsende Anzahl wendet sich dagegen Parteien zu, die versprechen, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, und ist bereit, das auch bei Wahlen zum Ausdruck zu bringen. Viele mögen dabei mit der Politik von LO und LCR nicht übereinstimmen, ja diese überhaupt nicht kennen. Aber sie hassen die PS, die KPF, die Rechten und die Bosse.

Hinzu kommt, dass der Wahlkampf nach einer massiven Streikwelle gegen die Rentenreform der Regierung und die Angriffe auf die LehrerInnen in der ersten Jahreshälfte 2003 stattfindet. Diese Bewegung hat nicht nur die Regierung, sondern auch die Reformisten von PS und KPF weiter diskreditiert.

Bürgerliche KommentatorInnen verfolgen die Umfragewerte von LCR und LO mit wachsender Besorgnis. Sie befürchten zwar keine unmittelbar bevorstehende Revolution, ja selbst der "heiße Herbst" ist 2003 in Frankreich ausgeblieben. Aber sie befürchten, dass eine der Sicherungen des französischen Kapitalismus - die reformistischen Parteien KPF und PS - endgültig durchbrennen könnten.

LO und LCR

Die gegenwärtige Lage in Frankreich eröffnet den ArbeiterInnen und der Jugend enorme Chancen. Es besteht angesichts der Diskreditierung von Stalinismus und Sozialdemokratie die reale Möglichkeit, dass eine neue Massenpartei der Arbeiterklasse geschaffen werden kann, die in den Betrieben, den Gewerkschaften, unter den ImmigrantInnen, den sans papiers (ImmigrantInnen ohne amtliche Papiere), den SchülerInnen und StudentenInnen verankert ist.

Eine solche Partei müsste eine Partei des Widerstandes, des Kampfes gegen jede Form der Unterdrückung und Ausbeutung sein, die die französischen Kapitalisten und ihre Regierung in erster Linie im Betrieb und auf der Straße und nicht an der Wahlurne bekämpft.

Die entscheidende Frage ist daher, ob und inwiefern die Kandidatur von LO/LCR dazu beiträgt. Offenkundig hilft sie dabei, die Idee, eine revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen, ins Bewusstsein nicht nur der Avantgarde, sondern von Millionen zu rücken.

Leider erfüllt das Programm, mit dem LO und LCR antreten wollen, diese Idee nicht mit Leben. Es ist zwar "radikal", aber keineswegs revolutionär-kommunistisch. Warum?

Erstens enthält es keine Klärung fundamentaler politisch-methodischer Differenzen von LO und LCR. Auf der einen Seite steht LOs typische Mischung aus gebetsmühlenartiger Propaganda für die Vorzüge des Sozialismus und gleichzeitiger Passivität gegenüber allen Bewegungen, die zentrale Aspekte der Unterdrückung angreifen. So ist LO bekannt für ihre Passivität im Kampf gegen die Front Nationale und Le Pen. Für LO sind Chirac und Le Pen einfach Rassisten, im Grunde dasselbe. Wozu also Massenaktionen gegen die proto-faschistische FN, wozu Selbstverteidigungsorganisationen der ImmigrantInnen, wozu gegen den Rassismus in der Arbeiterbewegung offensiv angehen?

Ähnlich sektiererisch wie gegenüber dem Kampf gegen die FN verhält sich LO gegenüber der anti-kapitalistischen Bewegung. Wandel der Kapitalismus? Globalisierung? Für LO erübrigt sich die "Analyse" damit, zu beweisen, dass Kapitalismus eben ... Kapitalismus ist. Die anti-kapitalistische Bewegung ist "nicht proletarisch" und "kleinbürgerlich" - und damit hat sich für LO auch die Frage erledigt, wie die Arbeiterklasse in diese Bewegung einzugreifen hätte: nämlich gar nicht. Kein Wunder also, dass eine französische "revolutionäre" Organisation mit hunderten ArbeiterInnen und hunderttausenden WählerInnen beim Pariser ESF vor allem dadurch auffiel, dass sie nicht präsent war!

Die LCR nimmt zu all diesen Fragen eine gänzlich andere Haltung ein. Sie hat in praktisch allen wichtigen politischen und sozialen Bewegungen in den letzten Jahren eine bedeutende, aktive Rolle gespielt, Bündnisse aufgebaut, usw. Sie hat - anders als LO - im Frühjahr eine Kampagne für die Ausweitung der Kämpfe zum Generalstreik durchgeführt.

Aber sie hat sich gleichzeitig immer wieder in diesen Bündnissen und Mobilisierungen an das vorherrschende reformistische oder kleinbürgerliche Bewusstsein oder, noch schlimmer, die Führungen von KPF und attac politisch angepasst. So hat sie bei den Wahlen im zweiten Wahlgang für Chirac aufgerufen. Sie passt sich beim ESF an attac und Gewerkschaftsbürokraten an (she. dazu den Bericht vom ESF), die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten, für einen europaweiten Aktionstag gegen Sozialraub aufzurufen.

Die Wahlplattform lässt diese Differenzen zwischen LCR und LO beiseite. Die LCR hat nicht darauf bestanden, dass eine positive Haltung zur anti-kapitalistischen Bewegung in die Plattform kommt. Sie verzichtete darauf, den Kampf gegen Rassismus zu einem Schwerpunkt des Wahlkampfes zu machen und im Programm prominent herauszustellen. Auch die Generalstreiklosung gegen die Angriffe der Chirac-Regierung hat sie fallengelassen.

Daher trägt die Plattform auch über weite Strecken die Grundzüge des Propagandismus von LO, der das sozialistische Ziel - unvermittelt - neben eine Reihe von Tagesforderungen stellt.

Stillhalteabkommen

LO hat im Gegenzug auf eine Kritik des Opportunismus der LCR bei der Unterstützung Chiracs verzichtet.

Hinzu kommt, dass die LCR auf ihrer Konferenz im November zur Schaffung einer "breiten anti-kapitalistischen Partei" aufgerufen hat und dazu eine Kampagne gestartet hat, die in regionalen Versammlungen Ende 2004 gipfeln soll, um dann im günstigsten Fall zur Bildung einer solchen Partei voranzuschreiten. Das offenkundige Modell für eine solche Partei sind jedoch keine revolutionären Organisationen, sondern reformistische Blöcke wie Rifondazione Communista oder die rot-grünen Blöcke in Portugal und Dänemark.

Der LCR schwebt im Grunde eine große Partei vor, in der Reformisten und Revolutionäre "friedlich" unter einem Dach leben auf Basis eines "radikalen" oder "anti-kapitalistischen" Reformprogramms. Daher hat die LCR auch das programmatische Ziel der Diktatur des Proletariats im November endgültig gestrichen und durch umfassende "Demokratie" und "Pluralismus" ersetzt. Der ganze Klassencharakter des politischen Ziels ging damit flöten. Die "Demokratie" ist eine Form der Herrschaft einer Klasse - und zwar der bürgerlichen.

Auf der Basis eines solchen Programms mögen zwar mehr reformistische WählerInnen, enttäuschte KPler und SPler kurzfristig gewonnen werden können - aber nur um den Preis, dass diese WählerInnen in ihrem Reformismus bestätigt, statt für eine revolutionäre Zielsetzung gewonnen werden.

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Nr. 86, Dez 2003/Jan 2004

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