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Ukraine

Am Beginn eines Bürgerkriegs?

Franz Ickstatt, Neue Internationale 189, Mai 2014

In der zweiten Aprilhälfte begann die Kiewer Regierung, Truppen gegen die „Terroristen“ im Osten zu schicken. Nur: diese „Terroristen“ sind keine Agenten Putins oder gewaltbereite Schläger, auch wenn das die Propaganda der westlichen Medien so vermitteln möchte. Als die ersten 20 Panzer nach Slawjansk rollten, wurden sie von weitgehend unbewaffneten BürgerInnen „empfangen“, ließen sich entwaffnen und fuhren wieder nach Hause.

Einige Panzer wurden allerdings auch von Gruppen übernommen, die mit Besetzungen von lokalen Regierungsgebäuden die Macht übernommen haben. Dass sie nicht alle Panzer beschlagnahmt haben, war wohl ein Fehler, denn die Regierung in Kiew begann nach dieser Niederlage, ausgewählte Spezialkräfte zusammenzustellen, die - anders als die Soldaten aus dem Volk - bereit sind, auch auf die Bevölkerung zu schießen. Wenige Tage später stellten sie das auch unter Beweis. Es gab die ersten Toten, die nicht auf das Konto von Faschisten gehen, sondern eindeutig auf das der Regierung.

Die Regierung Jazeniuk steht heute ähnlich da wie ihre Vorgängerin unter Janukowitsch. Sie kontrolliert nur Teile des Landes, sie schwankt zwischen Brutalität und „Angeboten“, die keiner ernst nimmt, um die Bewegung zu stoppen. So hatte Jazeniuk angeboten, den Regionen mehr Autonomie zu gewähren. Gleichzeitig werden die dortigen BesetzerInnen aber als „Separatisten“ diffamiert, die angeblich ganze Regionen Russland angliedern wollten - obwohl die meisten nachweislich gar keine Lostrennung wollen, sondern mehr regionale Autonomie.

Aber die Massenbewegung, die Janukowitsch stürzte, hatte einen anderen Charakter als die jetzige Bewegung, die sich v.a. im Osten des Landes formiert. Die Maidan-Bewegung stand von Anfang an für reaktionäre Ziele, wie die Assoziierung an die EU; sie stand von Beginn an unter Kontrolle bürgerlicher Parteien, von der Vaterlandspartei, über Klitschkos UDAR bis hin zu den Faschisten der SWOBODA und den Schläger-Trupps des „Rechten Sektors“. Die Bewegung im Osten hat demgegenüber den Charakter einer Volksrebellion.

Die Massen, die im Osten auf die Straße gehen, empören sich über die antidemokratischen und national-chauvinistischen Maßnahmen der Kiewer Putsch-Regierung, über die Beteiligung von Faschisten an dieser Regierung und die entsprechende Freiheit, die deren Schlägerbanden heute genießen. Sie empören sich über die unhaltbaren sozialen Zustände, die die neue Regierung noch verschärfen will, ja unter dem Diktat von EU und IWF verschärfen muss. So wurde ein „Verteidigungsfonds“ aufgelegt, der soziale Kürzungen und Extrasteuern für Arbeitende vorsieht.

Die Bewegung im Osten steht nicht unter der politischen Kontrolle bürgerlicher Parteien. Janukowitschs „Partei der Regionen“ ist praktisch nicht sichtbar, denn sie hat keine Perspektive und kein Angebot für die Massen. Besonders dort, wo linke Kräfte stärkeren Einfluss gewinnen, finden Parolen gegen Kapitalismus und die Oligarchen starken Anklang.

Andererseits versuchen natürlich alle möglichen russisch-nationalistischen Gruppierungen oder auch die „Kommunistische Partei“, die jahrelang als Janukowitschs politischer Steigbügelhalter fungierte, politisch Einfluss zu gewinnen.

Eine solche Bewegung aber ist für die führenden politischen Gruppierungen und die Kapitalistenklasse in der Ukraine und die westlichen Imperialisten untragbar. Sollte sie sich weiterentwickeln, würde sie zum Albtraum für alle bürgerlichen Parteien, die Oligarchen jeder Couleur und die Imperialisten in EU und USA, aber auch für Putin werden, dessen Regierung die Bewegung keinesfalls direkt kontrolliert.

Wie hat sich die Bewegung entwickelt?

Sie entstand im März aus der Empörung über die Übergriffe der Kiewer Putsch-Regierung, über die diskriminierenden Gesetzesvorhaben des gesäuberten Parlaments gegen die russisch-sprachige Bevölkerung und die Attacken angereister Faschisten.

Sie bekam schnell eine Orientierung auf Russland, die von der westlichen Propaganda und der Demagogie der Kiewer Putschisten schnell als Werk Putinscher Agenten ausgelegt wurde. Dass Putin solche AgentInnen in Bewegung setzt, ist ebenso klar, wie dass etliche der Maidan-Akteure westliche Agenten waren, lange vorbereitet und bezahlt als NGOler oder gar als Präsidentschaftskandidaten wie Klitschko. Auch russische Soldaten mögen wieder dabei sein, die sich aber offensichtlich weniger leicht erwischen lassen wie die Bundeswehr-Soldaten einer „nicht-diplomatischen“ OSZE-Mission. Nicht zu vergessen, dass Millionen UkrainerInnen in der Russischen Föderation leben und arbeiten, von denen in einer solchen Krisensituation einige in ihre „alte Heimat“ ziehen könnten.

Mit Soldaten und Agenten lässt sich aber keine Bewegung ins Leben rufen, sie kann aber von ihnen beeinflusst werden. Die Hoffnungen auf Russland seitens der Bevölkerung im Osten der Ukraine, die nur aus einer kleinen Minderheit von eingewanderten RussInnen besteht, aber aus einer Mehrheit von russischsprachigen UkrainerInnen, gehen eher dahin, dass die Angst vor Russland die Aggressivität der Kiewer Regierung in Schranken hält. Eine Hoffnung, die sich mit Beschwörungen des brüderlichen Zusammenlebens zu Zeiten der UdSSR oder des antifaschistischen Kampfes im Zweiten Weltkrieg ausdrückt, aber letztlich typisch ist für die Hoffnung eines Volkes, dass in seiner Geschichte von den umliegenden Großmächten reihum besetzt war.

Solche Hoffnungen trügen und sie haben immer getrogen. Auch die Flucht der Krim in die Russische Föderation bringt vielleicht kurzfristig höhere Renten, aber auch Russland ist voll riesiger Landesteile, die in Armut leben.

Eine wirkliche Perspektive kann die Bewegung im Osten nur erhalten, wenn sie sich auf die organisierte Arbeiterklasse stützt. Natürlich ist die Bewegung schon heute ihrer sozialen Zusammensetzung nach überwiegend proletarisch. Aber es ist ein Unterschied, ob die Lohnabhängigen als einzelne Individuen an einer Bewegung teilnehmen oder bewusst als Klasse mit eigenen Kampforganen und Organisationen, wenn sie Machtorgane in den Betrieben aufbaut, wenn sie die Oligarchen nicht nur mit Parolen angreift, sondern in deren Verfügungsgewalt und in deren Eigentum eingreift. Dazu muss sie sich mit der westukrainischen Arbeiterklasse verbinden und diese  aus der Dominanz der prowestlichen bürgerlichen Parteien befreien. Russische Fahnen sind da ein Hindernis.

Die Besetzung von Regierungsgebäuden hatte gerade am Beginn öfter den Charakter von Angriffen einer aktiven Minderheit. Sie sind zwar eine Herausforderung der Zentralregierung und das im Grunde richtige Ausnutzen ihrer Schwäche; aber diese Aktionen werden nicht zu verteidigen sein, wenn es nicht gelingt, eine Machtbasis in der Bevölkerung aufzubauen, die es ermöglicht, auf das Vordringen der Kiewer Truppen und faschistischer Kräfte mit einer Streikbewegung zu antworten. Die Basis dafür existiert. So streiken die BergarbeiterInnen der Mine in Krasnodon, die übrigens dem Oligarchen Achmetow gehört, und haben auch das Rathaus der 75.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt besetzt.

Die aktuelle Hauptaufgabe ist die Gewinnung der Arbeiterklasse in den Fabriken und im Bergbau, die Agitation unter den Gewerkschaftsmitgliedern, deren Führung den Oligarchen hörig ist, Maßnahmen gegen das Kürzungsprogramm zu organisieren ebenso wie gegen die von Faschisten durchsetzte Nationalgarde und die Ablehnung der Autorität der Konterrevolutionäre in Kiew.

Während in Charkow das besetzte Regierungsgebäude noch in derselben Nacht geräumt wurde, konnten sich die Besetzungen in den östlicheren Teilen halten. Auch in Donezk gibt es wohl eine gewisse Unterstützung seitens der BergarbeiterInnen. Aber dennoch hat sich die ganze Bewegung nun auf eine militärische Auseinandersetzung verlagert.

Daran arbeiten alle reaktionären Kräfte. Die Genfer Konferenz vom 17. April brachte auch die Zustimmung von Putin zu der Forderung, die Gebäude zu räumen. Auch er will die Bewegung, die auch von ihm nicht zu kontrollieren ist, zerschlagen. Alles Militärgedröhne dient letztlich diesem Zweck.

Umgekehrt erkennen Vertreter des deutschen Imperialismus, dass das westliche Vorgehen an der sozialen Explosion im Land nicht unschuldig ist. Bemerkenswert waren die Worte von Benjamin Bidder:

„In Umfragen vor der Krise fand sich nie eine Mehrheit für eine Abspaltung der Donbass-Region von der Ukraine. Doch es zeigen sich die fatalen Fehler der Maidan-Revolutionäre. Um den ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu stürzen, ließen sie sich auf ein Bündnis mit nationalistischen Kräften ein, die Lenin-Denkmäler stürzen und den zutiefst russisch geprägten Osten der Ukraine ‚entrussifizieren' wollen. Der Übergangsregierung gehören zwar Nationalisten aus dem Westen der Ukraine an, aber kein einziger Politiker, der das Vertrauen der Ostukrainer besitzt. Das rächt sich jetzt. Anders als auf der Krim stellen Ukrainer im Osten des Landes vielerorts die Bevölkerungsmehrheit. Die neue Regierung in Kiew aber mögen nur wenige verteidigen….“ (Spiegel online, 23.4.)

Uwe Klussmann äußert sich zum Versagen des bürgerlichen Staates im Spiegel:

„Jetzt, einen Monat später, kontrollieren prorussische Milizen einen Großteil der Bezirke Luhansk und Donezk mit insgesamt 6,6 Millionen Einwohnern. Polizisten und teilweise auch Soldaten sind zu den Freischärlern übergelaufen, die Zentralregierung verliert rasant weiter an Macht.

Das wissen auch Diplomaten im Auswärtigen Amt von Minister Frank-Walter Steinmeier. Ihnen liegt eine vertrauliche Analyse aus dem Nato-Hauptquartier vor, die vor einem möglichen ‚failed-state scenario' in der Ukraine warnt und einem ‚möglichen Kollaps' des Staates. Äußerst skeptisch beurteilt das Dossier die Perspektive der Kiewer Übergangsregierung. Diese sei ‚offenkundig unwillig oder unfähig, ernsthaft die Schlüsselfragen des künftigen Staatsaufbaus der Ukraine zu klären'.“

Vor diesem Hintergrund ist ein „Sieg“ der Zentralregierung im Kräftemessen mit dem Osten unwahrscheinlich und wenn dann nur von kurzer Dauer. Umgekehrt kann die Bewegung im Osten nicht vorankommen, wenn es ihr nicht gelingt, erstens Machtstrukturen in den Betrieben, in der Arbeiterklasse - also Räteorgane - aufzubauen, die die Bewegung organisieren und demokratisch kontrollieren. Zweitens muss sie versuchen auf dieser Basis demokratisch kontrollierte Milizen zu bilden, da sonst die Gefahr einer Verselbstständigung von lokalen „Selbstverteidigungseinheiten“ besteht. Die offenkundige Zersetzung der ukrainischen Armee muss durch den Aufruf zur Bildung von Soldatenräten, die sich gegen die Kiewer Regierung stellen, vorangetrieben werden.

Schließlich geht es auch darum, die Bewegung über den Osten und Süden des Landes auch in andere Teile der Ukraine zu tragen. Es könnte eine lange Krise werden, in der KommunistInnen, SozialistInnen und ArbeiterkämpferInnen in der Ukraine, aber auch in Europa und Russland die Aufgabe haben, eine revolutionäre Perspektive für das Land zu entwickeln:

Solidarität mit den SozialistInnen und KommunistInnen in der Ukraine!

Nieder mit dem illegitimen Regime in Kiew!

Freilassung aller Gefangenen der Pro-Kiewer Regierung!

Weg mit dem Kürzungsprogramm von EU und IWF!

Nieder mit den faschistischen Banden - für Arbeiterselbstverteidigung!

Imperialisten in West und Ost: Hände weg von der Ukraine! Alle NATO-Waffen und Verbände raus aus der Region!

Keine russische Intervention in der Ukraine!

Für eine souveräne Verfassunggebende Versammlung!

Für eine Arbeiter- und Bauernregierung, die Enteignung aller Oligarchen und eine demokratische Planwirtschaft!

Für eine vereinte Arbeiterukraine als Teil der Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa!

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Nr. 189, Mai 14
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