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Ägypten nach dem Sturz Mursis

Gegen die Generäle und ihre Handlanger!

Dave Stockton, Neue Internationale 181, Juli/August 2013

Ein "kalter" Putsch hat den gewählten Präsidenten Mohamed Mursi entmachtet. Der Jubel darüber ist verständlich, aber er wird sich als kurzsichtig erweisen - wahrscheinlich recht schnell.

Die Armee hat wieder die Macht übernommen und eine "Technokratenregierung" eingesetzt. Sie wird ihre "road map" durchziehen, ihre Experten werden einen neuen Verfassungsentwurf schreiben. Die Armeeführung und die Richter aus Mubaraks Regime werden das Wahlverfahren bestimmen.

Wir sollten nicht vergessen, dass nach wie vor Tausende in den Gefängnissen sitzen, die während der Revolution von Militärgerichten verurteilt wurden. Nur eines kann an der jetzigen Lage als Erfolg gewertet werden, aber nur wenn es so bleibt: Die Massen sind auf den Straßen, und zwar Millionen. Wenn der Armee mit Unterstützung von Liberalen wie Mohamed El Baradei die "Wiederherstellung der Ordnung" gelingt, werden sie den Sparkurs und die Repression fortsetzen - unter den wachsamen Augen des IWF, des US-Außenministeriums und des US-Generalstabs.

Verfassunggebende Versammlung

Viele halten die Entmachtung Mursis für den nächsten Schritt der Revolution, die mit dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 begann. Das wird er aber nur dann werden, wenn die Massen selbst die Initiative ergreifen. ArbeiterInnen, Jugendliche und Frauen müssen nun ihre eigenen demokratischen Organisationen bilden, um die zentralen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Freiheit zu erkämpfen. Wenn man die Durchführung der kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen dem ägyptischen Militärrat überlässt und dessen Experten den neuen Verfassungsentwurf schreiben lässt, dann übergibt man die Demokratie der Gnade von in- und ausländischen Kapitalisten, ihren Politikern und Generälen.

Was stattdessen nötig ist, ist eine revolutionäre Verfassunggebende Versammlung, die gewählt werden muss in der demokratischsten Weise, die möglich ist. Das heißt: Unter Leitung der Organisationen der ArbeiterInnen und der Jugend. Die Demokratie darf auch nach der Wahl nicht aufhören. Die Delegierten dieser Versammlung müssen auf WählerInnenversammlungen regelmäßig Rede und Antwort stehen und es muss möglich sein, die Delegierten auszuwechseln, wenn sie nicht im Sinne der WählerInnen handeln. Nur eine solche Verfassunggebende Versammlung würde es ermöglichen, dass all jene, die unter emporschießenden Arbeitslosenzahlen und fallenden Löhnen leiden, dass die Frauen, die Jugendlichen, unterdrückte und verfolgte religiöse Minderheiten für ihre Forderungen nachhaltig eintreten können. Sie könnte der Sparpolitik ein Ende setzen, die Steuerlast auf die Schultern der Reichen legen und von Militärs und Großgrundbesitzern die Rückgabe all dessen fordern, was sie sich über Jahrzehnte angeeignet haben: Banken, Fabriken und landwirtschaftliche Großbetriebe.

Dass die Muslimbruderschaft von ihrem Höhenflug, den sie vor einem Jahr nach ihren Wahlsiegen hatte, in eine Krise gefallen ist, ist nicht nur als Folge ihrer Angriffe auf die demokratischen Rechte der ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen und der christlichen Minderheit zu verstehen. Ihr Popularitätsverlust findet auf einer viel allgemeineren Grundlage statt: der steigenden wirtschaftliche Not von Millionen. Sie betrifft auch viele, die einst UnterstützerInnen der Muslimbrüder waren oder sich zumindest nicht gegen ihre Herrschaft auflehnten.

Allein in diesem Jahr hat das Ägyptische Pfund gegenüber dem US-Dollar 12% an Wert verloren. Die Folge ist nicht nur Kapitalflucht, sondern auch in die Höhe schnellende Preise für Güter des täglichen Bedarfs wie Benzin und Mehl.

Zudem befindet sich die ägyptische Wirtschaft im Niedergang. Fabriken haben keine Aufträge und stehen still. Dass Mursi seinen Kopf so lange über Wasser halten konnte, ist nur der Unterstützung durch die diktatorischen, reaktionären sunnitischen Regime in den Golfstaaten zu verdanken. Gleichzeitig biederte er sich dem IWF und dem US-Imperialismus an und setzte die von ihnen geforderten Kürzungsprogramme durch, um neue Kredite zu bekommen.

Obwohl er drakonische Angriffe auf die Jugend und die Massenbewegungen führte und Gesetze gegen Streiks und die Arbeiterklasse erließ, konnte er nicht verhindern, dass sich seine eigene Basis zunehmend abgewandt hat und sich der Opposition anschließt.

Die politische Initiative "Tamarod" (Rebellion) hat sich im April aus der Kefaya-Bewegung gegründet, die seit über zehn Jahren eine wichtige Rolle in Protestbewegungen gespielt hat. Tamarod hat die altbekannte Methode der Massenpetition wieder aufgegriffen (sie geht auf die britischen Chartisten der 1830er-Jahre zurück) und eine enorme Zahl von AktivistInnen mobilisiert, um Unterschriften zu sammeln. Diese Mund-zu-Mund-Mobilisierung hat sich als äußerst effektiv erwiesen. Am 30. Juni gab Tamarod an, 22 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben.

Nach verschiedenen Quellen waren am 30. Juni zwischen 14 und 30 Millionen ÄgypterInnen auf den Straßen. Sie "feierten" den Jahrestag von Mursis Wahlsieg, um ihn zum sofortigen Rücktritt aufzufordern. Aufgrund der Kürze der Zeit, innerhalb der sich das Militär dann einschaltete, kann man jedoch vermuten, dass es eine geheime Absprache zumindest zwischen Führungspersonen der "Nationalen Heilsfront" (die Teil von Tamarod ist) und dem Vorsitzenden des Obersten Rates der Streitkräfte (Militärrat), General Abdel Fattah al-Sisi gab. Dessen 48-Stunden-Ultimatum, Mursi möge "auf den Willen des ägyptischen Volkes eingehen", war faktisch ein Rücktritts-Ultimatum.

Sofort nach Ablauf des Ultimatums verhaftete die Armee Mursi, brachte die staatlichen Fernseh- und Radiosender unter ihre Kontrolle und schaltete die islamistischen Sender ab (vorübergehend sogar Al Jazeera).

Die "Road Map" des Militärrats umfasst die sofortige Außerkraftsetzung der islamistischen Verfassung, die Auflösung des Parlaments und die Einsetzung einer Regierung unter Führung von Adli Mansour, dem Vorsitzenden des Obersten Verfassungsgerichts, der erst seit dem 1. Juli diese Position besetzt.

Obwohl auf dem Tahrir-Platz und auf unzähligen weiteren Massenversammlungen sehr viele Menschen verständlicherweise erleichtert sind über das Ende von Mursis autokratischer Herrschaft, werden sie schnell feststellen, dass sie nicht bekommen, was sie wirklich wollten. Die zivile "Technokratenregierung" wird sich als Maske erweisen, hinter der sich die Herrschaft der Generäle verbirgt.

Das mächtige Amt des Präsidenten ist genau dafür bestimmt, den demokratischen Willen mit Füßen zu treten - das haben Nasser, Sadat, Mubarak und Mursi gezeigt. Zudem wird es nicht einfach von allein jedes Mal einen Millionenaufstand geben, wenn die Massen reaktionäre Angriffe zu ertragen haben. Die Kandidaten, die im Moment eine Präsidentschaftswahl gewinnen könnten, würden weder der wirtschaftlichen Misere der Massen ein Ende bereiten - noch würde einer von ihnen demokratische Rechte gewährleisten.

Die UnterstützerInnen Mursis in der Muslimbruderschaft (MB) u.a. islamistischen Gruppen haben mit einer Massenmobilisierung für seine Wiedereinsetzung gedroht. Bis jetzt sind ihre Demonstrationen aber kleiner als die ihrer Gegner, und die Armee weist sie nun in die Schranken. Zudem scheinen sich Teile der Salafisten - insbesondere die Al-Nour-Partei, von der MB abzuwenden. Dennoch wurden bei Kämpfen zwischen Mursi-AnhängerInnen und -GegnerInnen Dutzende getötet. Etliche MB-Büros wurden in Brand gesetzt, darunter auch das Hauptquartier in Kairo.

Wir dürfen nicht die Entwicklung in Algerien 1991 vergessen, als der Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) durch einen Putsch verhindert wurde. Es folgte ein Bürgerkrieg, der 200.000 Tote forderte. In Ägypten ist nicht zu erwarten, dass das Militär einfach rigoros gegen IslamistInnen vorgehen wird. Wenn ihnen erneut demokratische Rechte verwehrt werden und sich die neue Regierung für weiteren wirtschaftlichen Niedergang rechtfertigen muss, könnte dies einen Wiederaufschwung der Muslimbrüder auslösen. Oder es könnten insbesondere junge IslamistInnen zum Terrorismus übergehen, etwa wenn das Militär den Wahlprozess blockieren sollte. Die Muslimbruderschaft einfach zu unterdrücken, wäre ein ziemlich gefährliches Spiel - es ist daher noch immer möglich, dass es zu einer Verständigung kommt, die zu Lasten der Liberalen gehen würde.

Dennoch zeigt die überwältigende Kraft der Massenmobilisierungen ohne jeden Zweifel, dass die Revolution in der Lage ist, voranzuschreiten und die zahlreichen Rückschläge zu überwinden - das Militärregime nach Mubaraks Sturz, die Wahl von Mursis reaktionärem Regime und nun einen weiteren "bejubelten" Militärputsch.

Es gab dieses Jahr bereits einen großen Anstieg von Arbeiterkämpfen und Streiks. Die Millionendemonstrationen werfen erneut die Frage der Macht der Volksmassen, d.h. der ArbeiterInnen, Kleinbauern, Frauen und Jugendlichen auf. Wieder steht die Zukunft der Revolution auf dem Spiel.

Die Massen dürfen sich nun nicht den Führern der liberalen, säkularen-nationalistischen Opposition anschließen, die ein Bündnis mit dem Militär und der Staatsbürokratie anstreben. Denn die Millionen sind nicht auf die Straßen gegangen, damit Mursi durch ein verkapptes Militärregime ersetzt wird.

Das würde bedeuten, dass der repressive Staatsapparat und die Wirtschaft von der liberalen (und neoliberalen) Elite gelenkt wird, welche die Angriffe des IWF fortsetzen würde. Eine solche Regierung würde ihre Macht einsetzen, um die Massenmobilisierungen zu unterdrücken, ihre Politik gegen die wirtschaftlichen Forderungen der Gewerkschaften durchzusetzen und gegen die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen.

Die liberale Opposition hat auf Taktiken wie den politischen Generalstreik verzichtet. Sie wollten sich immer an die Generäle wenden - nicht an die ArbeiterInnen.

Wie können die Massen einen erneuten Betrug verhindern?

Der entscheidende Punkt ist die Gründung von Versammlungen oder Räten in den Städten, auf dem Land und in der Armee. Hätte es diese bereits gegeben, so hätten die Massen selbst Mursi zu Fall bringen können. Natürlich war so ein Vorgehen von den bürgerlichen Oppositionsführern nicht zu erwarten - aber auch die linken und sozialistischen Organisationen haben nicht dafür agitiert.

Es ist aber noch nicht zu spät, das zu tun und die Millionen auf den Straßen so  aufzufordern, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen - mit ihren eigenen Methoden und für ihre eigenen Losungen:

Keine Unterstützung für die Marionettenregierung des Militärrates, egal ob Elemente des alten Regimes dabei sind oder nicht!

Vorbereitung eines Generalstreiks gegen jegliche Repression der neuen Regierung, wenn sie sich gegen das Demonstrationsrecht, das Streikrecht, die Rede- oder Pressefreiheit richtet! Vereinigt die vielen bestehenden Gewerkschaften zu Einheitsgewerkschaften, die von der Basis demokratisch gelenkt werden!

Gründung von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten und Verteidigungsmilizen in allen Stadtteilen und Betrieben!

Für freie Wahlen mit gleichem Wahlrecht ab 16 Jahren und mit proportionaler Auswertung ohne Prozenthürde zu einer Verfassunggebenden Versammlung! Die Delegierten müssen ihren WählerInnen rechenschaftspflichtig und von ihnen abwählbar sein!

Für eine provisorische Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf ArbeiterInnen-, Bauern- und Soldatenräte stützt!

Diese Regierung sollte folgendes Programm umsetzen:

Schutz der Verfassunggebenden Versammlung und Sicherstellung, dass sie ihre Funktion ohne Bedrohung oder Zwang ausführen kann!

Sofortiger Stopp des IWF-Kürzungsprogramms und Annullierung der Schulden!

Nationalisierung der großen Industriebetriebe und Banken unter Arbeiterkontrolle!

Sofortprogramm gegen die Armut! Für einen Mindestlohn bzw. -einkommen, gleitende Skala der Löhne zum Schutz vor den Auswirkungen der Inflation!

Enteignung der Großgrundbesitzer und Verteilung des Landes auf diejenigen, die es bearbeiten, d.h. die Kleinbauern und LandarbeiterInnen!

Legalisierung aller Arbeiterparteien, Gewerkschaften und demokratischen Organisationen!

Abschaffung aller Gesetze, die der Gleichberechtigung von Frauen entgegenstehen!

Entwaffnung der islamistischen Banden, der Aufstandsbekämpfungseinheiten und der Mukhabarat! Bestimmung der Kommandeure nach demokratischer Wahl durch die einfachen Soldaten!

Aufbau von ArbeiterInnen- und Bauernmilizen!

Diese Maßnahmen würden der Ägyptischen Revolution ein neues Kapitel eröffnen. Sie würde so den einzigen Weg nehmen, der geeignet ist, die Hoffnungen und Wünsche zu erfüllen, die der Revolution vom Februar 2011 zugrunde lagen - und sie würden den Weg bereiten für den Sozialismus. Die reaktionären IslamistInnen, die Militärs und die FührerInnen der liberalen Bourgeoisie haben bewiesen, dass sie alle unfähig sind, auch nur eine einzige demokratische oder soziale Forderung zu erfüllen, die von Millionen ArbeiterInnen, Kleinbauern, Frauen und Jugendlichen aufgeworfen wurden. Sie müssen alle verschwinden! Damit sie aber verschwinden, brauchen die Massen eine neue Führung - eine revolutionäre Partei der Arbeiterklasse, die dafür kämpft, die Ägyptische und die gesamte Arabische Revolution permanent und international zu machen.

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Nr. 181, Jul./Aug 2013
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