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Ägypten

Entflammt die Revolution neu?

Marcus Halaby, Neue Internationale 163, Oktober 2011

Acht Monate nach Mubaraks Sturz fordern Ägyptens neu formierte unabhängige Gewerkschaften zum ersten Mal ernsthaft die Militärregierung heraus, die an die Stelle des Ex-Präsidenten Mubarak getreten ist. Diese Gewerkschaften gingen aus vier kleineren Formationen hervor, die sich vor der Revolution illegal organisiert hatten. Die Ägyptische Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften drängt auf einen monatlichen Mindestlohn von 1.500 ägyptischen Pfund (ca. 240 Euro), das wäre mehr als eine Verdreifachung des geltenden Mindestbetrags.

Kern der Bewegung

Der Kern der Bewegung besteht aus 22.000 TextilarbeiterInnen in der Misr-Textilfabrik in der Industriestadt Mahalla, die dort rund 5% der Einwohnerschaft stellen. Sie fordern eine Verdreifachung der Zusatzzahlungen sowie staatliche Maßnahmen für mehr Investitionen und bessere Versorgung mit Rohstoffen.

Hunderttausende ArbeiterInnen könnten sich den Gewerkschaftsstreiks anschließen und den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen der neuen Regierung die Stirn bieten.

Auch LehrerInnen, PostlerInnen, Lokomotivführer und das Krankenhaus- und Luftfahrtpersonal wollen eine Aufstockung der Vergütungen und die Sicherheit von unbefristeten Verträgen.

Andere Forderungen beziehen sich auf die Entlassung von korrupten und unfähigen Managern, auf Lohnnachzahlungen, den Rücktritt des Ministers für Zivilluftfahrt sowie den Wiederbetrieb von jüngst geschlossenen Anlagen - unter Arbeiterkontrolle.

Die bemerkenswerteste Forderung allerdings zielt auf eine Lohnobergrenze, der zufolge die höchsten Gehälter das Fünfzehnfache des Mindestlohns nicht überschreiten sollen. Dies soll korrupte Manager daran hindern, Überschüsse aus den großen Unternehmen und Staatseinrichtungen abzuschöpfen, indem sie ihren Verwandten und Günstlingen Posten zuschanzen.

Neue Proteste

Die Streikbewegung überschneidet sich mit der Wiederbelebung der massenhaften Proteste auf den Straßen gegen die andauernde Militärherrschaft. Sie fordern die Abschaffung der Militärtribunale gegen ZivilistInnen, Gerichtsprozesse gegen korrupte Beamte und die Aburteilung der Verantwortlichen für den Tod der 850 Menschen, die während des Aufstands gegen Mubarak starben. Doch der Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Mubarak wegen der Tötung von mehr als 800 DemonstrantInnen ist auf den 30. Oktober vertagt worden - ein Indiz dafür, dass die Militärregierung wenig Interesse an konsequnter Aufklärung hat.

Neue Proteste haben sich auch ausgebreitet, nachdem bekannt geworden war, dass israelische Sicherheitskräfte Mitte August 5 ägyptische Grenzsoldaten getötet hatten. Dieser Gewaltakt erfolgte während der Verfolgung von „islamistischen“ Militanten, die angeblich mehrfach israelische Zivilisten in Eilat angegriffen hätten - auf ägyptischem Territorium!

Die Bevölkerung empörte sich gegen Israels Aktionen und dessen „Vergeltungs“bombardements im Gaza und demonstrierte massenhaft vor der israelischen  Botschaft in Kairo. Hier wurden der Abbruch der diplomatischen Beziehungen und die Aberkennung des ägyptischen Friedensvertrags mit Israel von 1979 verlangt. Dies zwang die Militärregierung zu der Drohung, den ägyptischen Botschafter aus Tel Aviv abzuberufen.

Zu Beginn dieser Proteste wurde der Demonstrant Achmed Schabhat international berühmt und erheilt den Beinamen „Flaggenmann“, als er die israelische Flagge von der Botschaft holte und stattdessen die ägyptische Fahne hisste. Auf der zweiten Kundgebung am 9. September, die auch die benachbarte saudische Botschaft ins Visier nahm, wurde eine Mauer niedergerissen, der israelische Botschafter samt Personal musste ausgeflogen werden.

Die Militärregierung hat seither als Antwort auf die Einmischung der Massen in die Beziehungen zum zionistischen Staat den Notstand verhängt. Israels Premier Netanjahu erklärte jedoch, Israel wolle den Friedensvertrag mit Ägypten weiterhin einhalten, weil der Staat fürchtet, bei Eskalation der Vorfälle einen möglichen regionalen arabischen Verbündeten zu verlieren.

Wahlen

All dies ereignet sich kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die durch den obersten Militärrat unter Vorsitz von Mubaraks altem Freund Feldmarschall Tantawi auf den 21. November verschoben worden sind.

In den Wahlen wird ein gutes Abschneiden für die islamistischen Verbündeten der Militärjunta, die Moslem-Bruderschaft und die ultrapuristische Salafistenbewegung erwartet, die sich auf die Ermüdung des Kleinbürgertums, die revolutionäre Erhebung fortzusetzen und auch den eingefleischten Konservatismus der ländlichen Regionen stützen, deren ärmste Schichten immer noch keinen wirtschaftlichen Nutzen aus der Revolution spüren, deren Hauptträger die städtischen Zentren waren.

Das Gewicht der konservativen Schichten nimmt durch den zurechtgebastelten Rechtsrahmen für die Wahlen, den die Militärregierung in Form einer beschleunigten Verfassungsabstimmung beschlossen hat, zweifellos zu. Der Oberste Militärrat hat vom Premierminister im Vorfeld der Wahl bereits harte Maßnahmen gegen streikende GewerkschafterInnen verlangt. Die paramilitärische Polizei hat demonstrierende ArbeiterInnen in Suez brutal angegriffen und verprügelt.

Es ist klar, dass Tantawi und seine Junta die „demokratische“ Konterrevolution anführen. Die DemonstrantInnen hatten Recht, als sie auf dem Tahrir-Platz riefen: „Tantawi ist Mubarak“. Der Feldmarschall hat sich geweigert, als Zeuge im Prozess gegen Mubarak auszusagen - eigentlich müsste er selbst als Mittäter auf der Anklagebank sitzen.

Wirtschaftliche und politische Forderungen

Die wachsende Überschneidung von wirtschaftlichen und politischen Forderungen, eine Massenstreikbewegung in Verbindung mit der Massenbewegung auf den Straßen kann die Machtfrage neu stellen und gewährleisten, dass die Revolution nicht durch eine „Wahlshow“ abgelenkt wird und die ägyptische Kapitalistenklasse sich nicht hinter der Fassade einer militarisierten „Demokratie“ an der Macht halten kann.

Die aktuelle Phase der Revolution markiert den möglichen und notwendigen Übergang der demokratischen in eine soziale, in eine sozialistische Revolution. Es zeigt sich, dass der Sturz des Mubarak-Regimes die zentralen demokratischen und v.a. sozialen Fragen Ägyptens nicht gelöst hat. Es zeigt sich, dass nur die Arbeiterklasse im Bündnis mit allen Unterdrückten in der Lage und bereit ist, die notwendigen Schritte zur Erneuerung der Gesellschaft zu gehen.

Die revolutionärsten Teile der Jugend und der Gewerkschaften sollten eine Bewegung formieren, die Wahlen verlangt, die sich jedoch nicht an der alten Verfassung und dem alten Parlament ausrichten und keine Parteien zulassen wollen, „die den Klassenhass schüren“. Nein, diese Wahlen müssen für eine souveräne konstituierende Versammlung stattfinden und eine neue Verfassung entwerfen und erörtern. Diese Versammlung muss klären, wie eine neue Diktatur verhindert werden kann, muss den Soldaten volle demokratische Rechte zugestehen und die Beziehungen zu den USA, zu Israel und den Palästinensern klären.

Die Militärjunta, die USA und Israel verabscheuen den Gedanken, dass die Massen ihre Anschauungen zu allen Fragen offen ausdrücken können und noch mehr, dass sie über die gesellschaftliche Grundlage aller wirtschaftlicher Bereiche selbst bestimmen und zu einer Beendigung der kapitalitischen Ausbeutungsordnung schreiten könnten.

Es ist klar, dass weder der oberste Militärrat, noch die Moslembrüderschaft oder Liberale wie Ayman Nour von der Ghad (Morgen)-Partei, wie Naguib Sawiris von der Freien Ägyptischen Partei oder aber der vom Westen gehypte Mohamed ElBaradei Vertrauen verdienen. Sie alle werden weder die demokratischen Bestrebungen der Jugend noch das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit seitens der ArbeiterInnen, der Bauernschaft und der städtischen Armut erfüllen.

Strategie

Was tun an diesem Scheideweg der Revolution? Zunächst ist es wichtig, dass Ausschüsse oder Delegiertenräte von allen Streikbeteiligten gebildet werden, um einen Generalstreik gegen die Militärregierung vorzubereiten. VertreteterInnen der revolutionären Jugend, der Landbevölkerung und der Elendsviertel sollten hinzugezogen werden.

Zum anderen ist die millionenfache Massenbewegung die einzige Kraft, die den Drang der Islamisten zur Macht aufhalten kann. Die Bewegung muss sich aber demokratisch strukturieren und eine politische Führung geben, will sie dem Führungsanspruch der Islamisten über die Massen entgegen treten. Eine landesweite Streikkoordination sollte geschaffen werden, um den Forderungen der Bewegung Ausdruck zu verleihen.

Wenn die Streikbewegung sich mit der Bewegung auf den Straßen verbinden und die organisierte Arbeiterklasse an die Spitze des Kampfs bringen kann, werden der Bevölkerung nicht wieder die Früchte ihres Sieges entrissen werden.

Drittens stellt sich bei Befolgung dieser revolutionären Taktik die Frage der Macht für die AbeiterInnen und Bauern - sie brauchen eine Regierung, die auf ihren Organisationen und Kampfstrukturen fußt und wirklich in ihrem Interesse regiert.

Nur eine solche Arbeiterregierung kann die demokratischen Forderungen der Revolution - Unabhängigkeit vom Imperialismus, die Agrarrevolution, die Befreiung der Frauen und aller Unterdrückten - wirklich umsetzen. Sie wird das nur tun können, indem sie sich auf die Organe der Massen - Räte der ArbeiterInnen, Bauern, Soldaten - stützt, indem sie den alten Staatsapparat Mubaraks zerbricht, die Konterrevolution entwaffnet und durch Arbeitermilizen ersetzt. Sie wird sie nur erfüllen können, wenn sie die demokratischen Aufgaben der Revolution mit der sozialistischen Transformation des Landes, der Enteignung der Kapitalistenklasse und der Einführung einer demokratischen Planwirtschaft verbindet.

Wenn dies erreicht wird, wird die Revolution von 2011 zu einer sozialistischen, kann das den gesamten Nahen Osten wirklich befreien und zur Internationalisierung der Revolution führen.

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Nr. 163, Oktober 2011
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