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Mexiko

Massen zur Macht!

Keith Spencer, Neue Internationale 114, Oktober 2006

Während der letzten Monate hat sich in Mexiko eine revolutionäre Situation entwickelt. Im März brachen Streiks der Kupferbergleute und StahlarbeiterInnen aus. Im Bundesstaat Oaxaca führte im Mai eine Demonstration von 70.000 LehrerInnen für bessere Bezahlung und staatliche Stipendien für arme StudentInnen zu einer Besetzung des zentralen Platzes.

Am 14. Juni wurde das Dauerzeltlager auf dem Hauptplatz brutal von der Polizei angegriffen. Das löste eine gewaltige Demonstration von 400.000 Menschen aus. Am nächsten Tag wurde eine Volksversammlung der Bevölkerung Oaxacas (APPO) gebildet, die sich aus 170 Delegierten, die 85 Organisationen, Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Menschenrechtsgruppierungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vertraten, zusammensetzte. Die beschlossene Strategie bestand darin, die Staatsregierung an der Ausübung ihrer Vollzugsfunktionen zu hindern. Jetzt befinden sich Stadt und Staat in einer Situation der Doppelmacht.

Nach den Präsidialwahlen vom 2. Juli wurde verkündet, dass Felipe Calderon, Kandidat der rechten neoliberalen Partei (PAN oder Nationale Aktionspartei) mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen habe. Die UnterstützerInnen von Andres Manuel Lopez Obrador, Kandidat der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), einer linkspopulistischen Partei, weigerten sich beharrlich, das zu akzeptieren. Sie waren davon überzeugt, die Wahlen seien getürkt.

Proteste

Eine Reihe von Massendemonstrationen begann. Am 31. Juli besetzten drei Millionen die Straßen und Plätze der Hauptstadt Mexiko City, sieben Millionen waren es im ganzen Land. Unter dem Druck der Massen zählte die Wahlkommission 9% der Stimmen erneut aus und erklärte, dass Calderon immer noch mit ungefähr 400.000 Stimmen gewonnen habe und lehnte daher eine vollständige Neuauszählung ab.

In den kommenden Wochen war besonders Mexiko City das Zentrum des Widerstands. Millionen AnhängerInnen Obradors (ehemals Bürgermeister) forderten nicht nur eine Neuauszählung, sondern auch die Amtsübernahme. Am 16. September rief dann Obrador einen Volkskongress aus, der ihn zum Präsidenten küren soll - fast 800.000 seiner AnhängerInnen versammelten sich in Mexiko City. Gleichzeitig wurde die Verabschiedung des amtierenden Präsidenten Fox im Parlament verhindert; Fox konnte nicht im Kongress sprechen, anstelle dessen richtete Fox eine Fernsehansprache gegen die Amlo-Bewegung (die PRD, zwei kleine linke Parteien, Gewerkschaften und Bauernverbände, die alle zur Wahl Obradors aufriefen) und rief das politisch gespaltene Land zur „Einigkeit“ auf.

Diese Taktik wollen Obrador und die PRD auch am 1. Dezember anwenden, wenn offiziell die Amtsgeschäfte an Calderon übergeben werden sollen; mit der Besetzung des Kongress soll die Machtfrage weiter offen gehalten werden.

Aber auch die Widersprüchlichkeit dieser populistischen Taktik zeigte sich am Nationalfeiertag. Anstatt sich der Militärparade des Staates entgegen zu stellen, machte die Amlo-Bewegung dieser den Weg frei und offenbarte damit ihre die Zugehörigkeit zum bürgerlichen System.

Die Volksversammlung von Oaxaca

Der Kampf in Oaxaca ist so bedeutend wegen der Organisationsform, die hier entstanden ist. Die APPO ist eine Rätestruktur in Keimform, die sich in ein echtes Instrument zur Durchsetzung der Macht der Arbeiterklasse und der Unterdrückten verwandeln könnte. Im August startete sie ein landesweites Forum, um eine alternative Verfassung und größere Volksbeteiligung zu diskutieren.

Sie hat einen Aufschwung an Volkskontrolle und -politik erlebt und organisiert sowohl Verpflegung und Unterstützung für Blockaden, Camps und Besetzungen wie sie als politischer Mittelpunkt fungiert und dabei auch die Rolle von Frauen aufwertet. So übernahmen letzten Monat 3.000 Pfannen und Töpfe schlagende Frauen das nationale Fernsehzentrum in Oaxaca und richteten eine Grußadresse an das ganze Land. DemonstrantInnen haben mit Paramilitärs und Polizei gerungen, die Kontrolle über die Radiostationen zu behalten. Noch Mitte Juni besaßen sie nur eine, jetzt kontrollieren sie bereits zehn.

Das Forum fiel mit einem landesweiten Streik zusammen, der für den 18. August von den LehrerInnen ausgerufen und von vielen Gewerkschaften und Bürgerorganisationen unterstützt wurde.

Die Bewegung hat den Bundesstaat polarisiert und den diktatorischen und reaktionären Gouverneur Ruiz isoliert. Die kleinen Läden haben sich auf die Seite der Bewegung geschlagen, während die großen Geschäfte mit einem eigenen Streik gegen die Unfähigkeit drohen, die APPO und die Ausstände zu kontrollieren.

Aber der Massencharakter der Bewegung bedeutet auch, dass sie politisch und sozial uneinheitlich ist: die indigene Politik (Oaxaca hat die größte Urbevölkerung in Mexiko) spielt eine große Rolle, aber auch Reformisten, Bischöfe, NGOs und die Lehrergewerkschaft, welche die Krise auslöste, sind dabei.

Seit Mai haben sich die Forderungen nach links verschoben, von solchen um Bezahlung und Arbeitsbedingungen für LehrerInnen zu jenen, wie man Ruiz los wird, die Landesverfassung umstößt und den Reichtum vor Ort unter Kontrolle bekommt.

Aber jede Lösung auf Landesebene kann nur im Zusammenspiel mit einer nationalen und selbst internationalen Bewegung Erfolg haben.

Die “andere Kampagne” - eine Ablenkung

Mittlerweile führen die Zapatistas ihre „andere Kampagne“ in den ländlichen Gebieten fort. Sie haben auch in Mexiko City gegen die Unterdrückung in Atenco protestiert, einer Landgemeinde, die in einem Konflikt um Boden steht, und veröffentlichten letzten Monat eine Stellungnahme nach einer Konferenz auf der Halbinsel Yucatan.

Doch diese „andere Kampagne“ ist eine Ablenkung. Ihre Mobilisierungen umfassten nur wenige Tausend statt der Millionen in Mexiko City oder Hunderttausenden in Oaxaca. Ihre Botschaft, die Wahlen seien eine Ablenkung - im Einklang mit ihrer anarcho-populistischen Ansicht, dass „Machtergreifung“ unnütz oder regelrecht gefährlich sei - hat sie zu Statisten degradiert, als die Massen um den Wahlausgang kämpften und begannen, die Machtfrage aufzuwerfen.

Die Erklärung der Yucatan-Konferenz ist voll mit Appellen an die alten Gottheiten, an einen Indigenismus, der die Masse der Arbeiterklasse ignoriert; selbst die Unterstützungsbekundungen für Oaxaca und Atenco enthalten keine Vorschläge für ein Vorwärtsbringen der Bewegung. Wann immer der Klassenkampf ein gewisses Maß an Intensität erreicht, stellt sich die Frage der politischen Macht - sollen sich die Massen dem Staat unterwerfen oder aber ihn besiegen und den Unterdrückungsapparat zerschlagen? Der Anarchismus und seine postmodernen Versatzstücke wie der Zapatismus verlassen das Schlachtfeld, wenn diese Frage gestellt wird.

Was nun?

Die Reaktion wird nicht abwarten und zuschauen. Seit Ende der 1980er Jahre haben das mexikanische Bürgertum und die USA die Liberalisierung der Wirtschaft beaufsichtigt, die ArbeiterInnen immer schärferer Ausbeutung unterworfen und die Bauern vom Land vertrieben. Mexiko ist ein Bollwerk des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA).

Die USA brauchen eine neoliberale Regierung in Mexiko als Barriere gegen die „populistische Überflutung“ in Lateinamerika. Die USA werden nicht einer Revolution für „Volksmacht“ leichtfertig gestatten, die PAN aus dem Sattel zu heben. Obwohl Obrador selbst kein Radikaler ist und eher Lula gleicht als dem linkeren Chavez, könnte sich das ändern, wenn er wie Chavez von einer revolutionären Welle an die Macht gespült würde. Deshalb wird Bush gewiss alles versuchen, um Fox und Calderon den Rücken zu stärken.

Die Massen kämpfen deshalb objektiv nicht nur um eine Wahl, sondern um die Zukunft ihres Landes und des Kontinents - doch dafür brauchen sie eine klare revolutionäre Klassenpolitik, keine bürgerliche Volkstümelei Obradors, keinen kleinbürgerlichen Anarchopopulismus, keine zapatistische Ablehnung des Kampfes um die Macht und keine bestechlichen Gewerkschaftsbonzen. Sie brauchen ein revolutionäres Aktionsprogramm, das den Weg zur Machtergreifung durch die Massen selbst skizziert.

Die brennende Frage ist momentan, wie Fox, Calderon und ihre Partei aus dem Amt gejagt werden können. Dafür ist mehr als Massendemonstrationen, selbst mit Millionen, nötig. Dafür ist ein unbefristeter Generalstreik notwendig - auch, um die ArbeiterInnen zu verteidigen, die sich bereits im Konflikt gegen die Kapitalisten befinden, wie die entlassenen Kupferminenarbeiter.

Aber jeder Generalstreik, der über eine eintägige Heerschau hinausgeht, wird die Wirtschaft lähmen und die Frage aufwerfen: Wer regiert? Wenn die ArbeiterInnen und Bauern ein bundesweites Netzwerk aus räteartigen Volksversammlungen wie in Oaxaca knüpfen können, dann kann die Antwort der Massen lauten: Wir regieren!

Solche Versammlungen müssen in jedem Dorf, in jeder Stadt gebildet werden! Sie sollten sich auf das Delegiertenprinzip gründen und Gewerkschaften, Fabrikkomitees und Bauernorganisationen einbeziehen. Sie müssen zu alternativen Machtzentren werden, d.h. zu Räten, die das Privateigentum und die Herrschaft des Staates brechen, Lebensmittel verteilen und notwendige Arbeiten organisieren wie z.B. Radio- und Fernsehsender zu betreiben.

Die Volksversammlungen müssen die Massen gegen Armee, Polizei und die gedungenen Mörderbanden der Reichen bewaffnen und eine Miliz zum Schutz von Streiks und Besetzungen aufbauen!

Die Aufforderung zum Generalstreik muss auch an die Gewerkschaftsspitze gerichtet werden. Aber die ArbeiterInnen müssen anstreben, selbst die Kontrolle über den Generalstreik zu erlangen und sie den Händen korrupter Bürokraten zu entreißen, die im Schlepptau der bürgerlichen Großparteien agieren. Ansonsten sind Verrat und Niederlage garantiert. Das gilt auch für die Gewerkschaftsführung in der Gunst Obradors, die einen Generalstreik von vier Millionen ArbeiterInnen vor dem Wahlgang absagte. Die ArbeiterInnen müssen Streik- und Betriebsausschüsse formieren, um Massenstreikposten zu organisieren, Betriebsbesetzungen zu initiieren und Kontakte mit Streikenden in anderen Fabriken, Büros und Gruben zu knüpfen.

Die Volksversammlungen und der Generalstreik müssen für eine souveräne Verfassungsgebende Versammlung eintreten und die Wahlen dafür überwachen. Ein solcher Konvent muss diskutieren, welche Art Regierung die morsche Verfassung ersetzen soll. Darüber hinaus muss diese Konstituante Maßnahmen ergreifen, die in die Herrschaft der Bosse und ihres Eigentums eingreifen, Fabriken verstaatlichen und unter Arbeiterkontrolle stellen sowie die Bauernschaft zur Besetzung und Übernahme des Großgrundbesitzes ermutigen.

Für eine revolutionäre Partei!

Doch keine dieser lebenswichtigen Aufgaben erledigt sich spontan. Um diese Auseinandersetzung zu organisieren, muss eine revolutionäre Partei geschmiedet werden. Das ist die dringendste Aufgabe!

Eine solche Partei muss aus den AktivistInnen in den Gewerkschaften und Streikkomitees und den revolutionärsten Elementen in den Volksversammlungen gebildet werden. Diese Partei muss sich für die Massenbewaffnung und Verbrüderung mit den unteren Schichten der Armee einsetzen. Sie muss für eine massenhafte Volkserhebung streiten, für einen Aufstand, der die Unterdrückergewalt des Kapitalistenstaats zerschmettern und eine revolutionäre Arbeiterregierung errichten kann, die den Volksversammlungen gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

Die gefälschten Wahlen mögen den Anlass für Millionen geliefert haben, auf die Straße zu gehen. Aber die Hartnäckigkeit der Wahlkommission und von Fox und Calderon hat die Frage aufgeworfen, wie sich ihrer zu entledigen sei? Die Antwort liegt im Ringen um die Macht durch die Arbeiterklasse und die arme Bauernschaft. Sie braucht keinen Obrador; sie darf nicht bei volkstümlichen Reformen stehen bleiben - sie ist stattdessen untrennbar mit der Frage des Sozialismus und der internationalen Revolution verbunden.

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Nr. 114, Oktober 2006

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*  Mexiko: Massen an die Macht!
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