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Israel/Palästina

Alles Lüge!

Interview mit Neta Golan, ISM-AktivistIn in Palästina, Neue Internationale 106, Dezember 2005/Januar 2006

Neta Golan, eine Israelin, die in Ramallah lebt, hat das International Solidarity Movement (ISM) im Jahr 2001 mitgegründet. Sie war bei Yasser Arafat während der Belagerung des Präsidentenpalastes in Ramallah im Jahr 2002 und arbeitet als Medienkoordinatorin und Ausbilderin für die ISM.

Wladek Flakin von der kommunistischen Jugendorganisation REVOLUTION (www.onesolutionrevolution.de) war im November in Israel und Palästina.

Im Rahmen dieser Reise führte er dieses Interview mit der israelischen Anti-Zionistin.

Auch wenn wir mit dem ISM nicht in allen Punkten übereinstimmen, so betrachten wir seine Arbeit als wichtigen Bestandteil im Kampf gegen die Unterdrückung der PalästinenserInnen.

Die Bedeutung der internationalen Solidarität mit den BewohnerInnen von Gaza, der Westbank und den Millionen in den Flüchtlingslagern in Jordanien oder im Libanon kann schwerlich überschätzt werden; sowohl wegen der gezielten Desinformation in den bürgerlichen Medien, wie auch wegen der aktuellen politischen Entwicklung.

Die Gründung der neuen Partei Kadima durch den israelischen Ministerpräsidenten Scharon und ihre Unterstützung durch Ex-Labour-Chef Perez zeigt, dass die herrschende Klasse in Israel wie auch der Imperialismus gezielt daran arbeiten, eine israelische Staatsführung zu schaffen, welche die Befriedung der PalästinenserInnen im Rahmen eines reaktionären „Friedensprozesses“ und die Stabilisierung der Region vorantreiben sollen.

Durch die „Road map“ sollen die Vertreibung der PalästinenserInnen, ihre nationale und soziale Unterdrückung festgeschrieben werden - in der Form eines vollkommenen abhängigen Ministaates, vergleichbar mit den Bantustans des ehemaligen Apartheidregimes Südafrika. So wird die rassistische Unterdrückung durch den zionistischen Staat weitergeführt. So kann es nie einen gerechten Frieden geben.

Das Interview mit Neta Golan zeigt auch, dass der Kampf gegen den Zionismus weiter lebt, dass - anders als von der deutschen Bourgeoisie und ihren „anti-deutschen“ Speichelleckern behauptet - Antizionismus und Antisemitismus grundverschiedene Sachen sind, dass der Kampf gegen die Unterdrückungsmaschine des israelischen Staates nicht nur von den palästinensischen ArbeiterInnen und Bauern, sondern auch von einer, wenn auch kleinen, Minderheit israelischer BürgerInnen geführt wird.

Es ist diese Minderheit, der nicht nur unsere Solidarität gilt. Es ist auch diese Minderheit, welche die Zukunft der Befreiung und eines Zusammenlebens von PalästinenserInnen und Israelis in einem gemeinsamen, bi-nationalen Staat repräsentiert. Der gegenwärtige zionistische Staat steht dem entgegen, da er auf rassistischen Grundlagen fußt, zu dessen konstitutiven Grundlagen die Unterdrückung und Vertreibung der PalästinenserInnen sowie die Beschneidung der demokratischen Rechte der PalästinenserInnen und der arabischen Israelis (einschließlich des Rückkehrrechtes) gehören.

Doch der revolutionäre Sturz dieses Staates durch die ArbeiterInnen und Bauern wäre alles andere als eine Katastrophe für das jüdische Volk - er wäre vielmehr selbst ein Meilenstein zu seiner Befreiung von Imperialismus und Kapitalismus.

Interview

Neue Internationale (NI): Was ist ISM?

Neta Golan (NG): ISM wurde gegründet, um den gewaltfreien Widerstand in Palästina zu unterstützen. Es ist eine gemeinsame Bewegung von PalästinenserInnen und internationalen Leuten, aber unter palästinensischer Führung. Wir haben drei Grundprinzipien: Erstens Gewaltfreiheit. Zweitens arbeiten wir in Gruppen, nutzen das Konsens-Prinzip und haben so wenig Hierarchie wie möglich. Drittens sagen wir, dass wir als internationale AktivistInnen hier zu Gast sind. Wir wollen keine "kolonialen AktivistInnen" sein, die den PalästinenserInnen sagen, was sie zu tun haben. Es müssen die lokalen Ortsgemeinschaften sein, die entscheiden, welche Aktionen gemacht werden, denn sie müssen auch mit den Konsequenzen leben - und diese können furchtbar sein.

NI: Unter welchen Bedingungen wurde die ISM gegründet?

NG: Die ISM wurde mit der Al-Aqsa-Intifada im September 2000 geboren. Die israelische Armee hatte schon lange davor auf unbewaffnete DemonstrantInnen geschossen. Aber als die ersten massiven, gewaltfreien Proteste begannen, hat die israelische Armee im Durchschnitt sieben Kinder am Tag ermordet. Zu dieser Zeit war ich überzeugt, dass die israelische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft sich darüber empören und die israelische Regierung zum Rückzug zwingen würden. Im ersten Monat habe ich noch vor dem Büro des Premierministers in Jerusalem demonstriert. Nach einem Monat war mir klar, dass das Vorgehen Israels akzeptiert werden würde - wegen des Rassismus gegen AraberInnen (man könnte das Antisemitismus nennen, denn AraberInnen sind SemitInnen) überall in der westlichen Welt. Wir wussten, dass, wenn Israelis und Internationale gemeinsam auf den Demos wären, die Gewalt der Armee verhindern werden könnte.

NI: Was sind die Hauptaktivitäten der ISM?

NG: Ein zentraler Bereich ist die Unterstützung des Widerstandes gegen die Annexions-Barriere, die Mauern und Zäune, die rund um die West Bank gebaut werden. Wir konzentrieren uns auf das Dorf Bilin bei Ramallah, wo der Widerstand sehr dauerhaft ist, mit einer Demo jeden Freitag - seit zehn Monaten.

Jedes Jahr versuchen wir, die Olivenernte zu unterstützen. Dieses Jahr arbeiten wir in der Stadt Nablus. Zusammen mit israelischen Gruppen wie "Rabbiner für Menschenrechte" oder "Anarchisten gegen die Mauer" gehen wir auf die Felder und pflücken Oliven in Gebieten, die von den Siedlern bedroht werden.

NI: Hebron, in der südlichen West Bank, scheint besonders viele Konflikte zu haben. Was macht die ISM dort?

NG: Wir haben eine Basis in Tel Rumeida, einem Viertel in der Altstadt Hebrons, wo PalästinenserInnen neben Siedlern unter Apartheid-Bedingungen leben. Zum Beispiel können die PalästinenserInnen zentrale Strassen nicht benutzen, weil diese für die Siedler reserviert sind. Palästinensische Kinder werden auf dem Weg zur Schule von jungen Siedlern mit Steinen beworfen oder auf andere Art angegriffen. ISM-AktivistInnen begleiten diese Kinder jeden Tag zur Schule. Für die PalästinenserInnen bedeutet Widerstand, dort in der Gegend zu bleiben.

NI: Vor kurzem hat die israelische Armee vier ISM-AktivistInnen aus Hebron rausgeworfen. Wie kam es dazu?

NG: Vor wenigen Tagen haben Soldaten sie grundlos festgenommen. Sie haben die Polizei angerufen, die sie wiederum ohne Anklage verhaftete. Nach 24 Stunden (dem gesetzlichen Maximum) wurden sie einem Richter vorgeführt, der die Polizei dafür tadelte, dass sie diese Aktivisten ohne gesetzliche Grundlage festgehalten haben. Aber weil die Gegend so sensibel ist, hat er sie unter der Bedingung freigelassen, dass sie in den nächsten 10 Tagen nicht nach Hebron zurückkehren und an keiner politischen Demonstration teilnehmen. Das hat nichts mit Sicherheit zu tun, dass ist politische Verfolgung.

NI: Welche Resonanz haben ISM und andere Anti-Besatzungsgruppen in Israel?

NG: Das kann ich nicht genau beantworten, weil ich jetzt in Palästina lebe. Aber ich kann sagen, dass es eine andauernde Diffamierungskampagne gibt, sowohl vom Außenamt (das wir nicht wegen Beleidigung verklagen dürfen) wie auch von rechtsextremen Siedlergruppen wie "Stoppt die ISM". Sie verbreiten die unglaublichsten Lügen. Über mich wurden wahnsinnige Sachen geschrieben, z.B. dass ich mein ganzes leben in einer Psychoklinik verbracht hätte. Jetzt, Jahre danach, werde ich immer noch gefragt, wie ich Aktivistin werden konnte...

NI: Wie reagieren PalästinenserInnen auf die ISM, da viele AktivistInnen jüdischer Herkunft sind?

NG: Ich schätze, dass etwa 20% der AktivistInnen jüdisch sind, aus den USA, Kanada und anderen Ländern. Die palästinensischen Gemeinschaften empfangen sie mit offenen Armen. Natürlich gibt es auch palästinensische Rassisten, denen ich als Jüdin in der West Bank begegne. Aber es ist viel seltener als in Israel - hier ist es eine Ausnahme, dort ist es die Regel.

Selbst die Hamas hat mich und andere jüdische AktivistInnen in ihre Häuser eingeladen. Dass die Menschen gegen die Besatzung sind, heißt nicht, dass sie nicht differenzieren können, zwischen Juden und Israelis, zwischen Zionisten und Friedensaktivisten.

Wir fragen die Ortsgemeinschaften, ob es ihnen recht ist, wenn Israelis bei den Aktionen mitmachen. In manchen Orten, wie Nablus-Stadt, wollen sie das nicht. Aber in all den Jahren hat noch nie eine Gemeinschaft gesagt, dass sie keine jüdischen AktivistInnen dabei haben wollen.

Der Konflikt hier wird oft als eine Art Jahrtausende alter religiöser Konflikt dargestellt. Aber ich kann sagen, auf der palästinensischen Seite gibt es keine religiöse, sondern eine anti-koloniale Agenda.

NI: Wie reagiert ihr auf Vorwürfe, ihr würdet terroristische Gruppen oder Aktionen unterstützen?

NG: Wir antworten mit der Wahrheit - das ist unsere Stärke. Alles, was hier passiert, wird von der israelischen Armee als Terrorismus bezeichnet. Als der britische Fotograf Tom Hurndall von Soldaten in Gaza erschossen wurde, hieß es in der ersten Erklärung der Armee, er hätte eine Tarnuniform und eine Waffe getragen. Dann hieß es, er hätte neben einem palästinensischen Kämpfer gestanden. Die Wahrheit ist, dass eine Gruppe Soldaten auf drei Kinder an einer Straßensperre geschossen hat. Tom wollte sie aus der Schusslinie holen.

NI: Wie können Leute, die in anderen Teilen der Welt leben, euch unterstützen?

NG: Ich möchte die Leute einladen, hierher zu kommen und die Situation mit eigenen Augen anzuschauen. Ich weiß, es ist verwirrend, wenn jede einzelne Geschichte in zwei völlig unterschiedlichen Versionen erscheint. Deshalb lade ich ein, ich bitte, ich flehe, dass die Leute hierher kommen und selbst die Realität der besetzten palästinensischen Gebiete ansehen!

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Nr. 106, Dez 2005/Jan 2006

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*  Aktionen gegen Studiengebühren: Über Gebühr teuer
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*  Politisch-ökonomische Perspektiven: Krise und Klassenkampf
*  Frauen und prekäre Arbeit: Küche, Krise, Kapital
*  Israel/Palästina: Alles nur Lüge
*  Ausnahmeszustand in Frankreich: Der Aufstand der Jugend und die Linke