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Frankreich

Aus für EU-Verfassung?

Martin Mittner, Neue Internationale 100, Mai 2005

Auch Pseudo-Demokratie kann gefährlich sein. Eigentlich wollte sich die französische Regierung die EU-Verfassung vom Volk absegnen lassen und ihr so mehr Legitimation verschaffen.

Nicht nur Präsident und Regierung, auch die Mehrheit der oppositionellen Sozialisten und die Grünen rufen zu einem JA zur Verfassung auf. Noch im Dezember 2004 wurde ein JA als sicher angenommen, als in der Parti Socialiste bei einer Abstimmung unter ihren Mitgliedern 60% die EU-Verfassung unterstützten.

Späte Manöver

Aber der Wind hat sich gedreht. Aufgrund schlechter Umfragen entschlossen sich Präsident Chirac und die verhasste Regierung Raffarin zu einem weiteren Manöver, indem sie "Nachbesserungen" der Dienstleistungsrichtlinie der EU-Kommission (Bolkestein-Richtlinie) einforderten. Letztere beeilte sich, den Forderungen der französischen und anderer Regierungen nachzukommen und Verhandlungen über nicht weiter definierte Änderungen aufzunehmen.

Doch diese Manöver könnten sich als zu spät und zu leicht durchschaubar erweisen, selbst dann, wenn es einige kosmetischen Verbesserungen geben sollte.

In den Meinungsumfragen liegen seit Wochen die GegnerInnen der EU-Verfassung vorn und die Volksabstimmung vom 29. Mai droht, für die Regierung zu einer Niederlage zu werden.

Zweifellos steht hinter dem NEIN nicht nur eine progressive Ablehnung. Die rassistische und halbfaschistische Rechte lehnt die EU entschieden als "anti-französisch" ab. Sie führt eine reaktionäre und rassistische Kampagne gegen den Beitritt der Türkei und schürt dabei ähnliche Ressentiments wie z.B. die CSU in Deutschland.

Ein Teil der französischen Bourgeoisie und die französischen Imperialisten fürchtet außerdem auch in einer stärker vereinheitlichen, kapitalistischen EU langsam aber sicher zur Nummer 2 hinter dem wirtschaftlich stärkeren, militärisch und politisch jedoch noch nicht ebenbürtigen deutschen Imperialismus zu werden - ein strategisches Dilemma der Grand Nation.

Einerseits ist den meisten Imperialisten zwar klar, dass eine Weltmachtrolle als Herausforderer der USA nur im Bündnis mit Deutschland möglich ist - andererseits bedeutet das aber auch, Abschied von der realpolitisch ohnehin längst illusionär gewordenen Rolle als "unabhängige Weltmacht" zu nehmen.

All diese Faktoren erklären jedoch nicht den starken Zuwachs der AnhängerInnen der Kampagne gegen die EU-Verfassung und verstellen eher den Blick auf den progressiven Charakter dieser Kampagne.

Soziale Kämpfe

Den Hintergrund für den Stimmungswandel der französischen Bevölkerung bilden die massiven sozialen Kämpfe der letzten Monate. Sie sind die Ursache dafür, dass die NEIN-Stimmung nicht von rassistischen, nationalistischen und offen-kapitalistischen Positionen geprägt wird.

Die französische Arbeiterbewegung hat sich nach den Niederlagen des Jahres 2003 im Kampf gegen die Rentenreform der Regierung Raffarin wieder erholt und an Selbstvertrauen gewonnen.

Seit Februar demonstrierten Hunderttausende für Lohnerhöhungen, gegen Deregulierung und für die Verteidigung der 35-Stunden-Woche.

Der eintägige Streik vom 10. März 2004 markiert einen ersten Höhepunkt der Mobilisierung, die seither das Land prägt. Erstmals seit Jahren waren nicht nur Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes in großer Zahl an der Arbeitsniederlegung beteiligt, sondern auch die ArbeiterInnen zahlreicher Großbetriebe, darunter Renault, Rhodia, Rhone-Poulenc, Sanofi-Aventis, Toatl, Exxon, CocaCola, L´Oréal und Nestlé. In 115 Städten demonstrierten rund eine Million Menschen. Hinzu kommt der Kampf von SchülerInnen und Studierenden gegen die "Bildungsreform" der Regierung.

Diese allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung bildet den Nährboden für die Kampagne gegen die EU-Verfassung. Unter GewerkschafterInnen, WählerInnen der Linken usw. ist die Ablehnung deutlich größer als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Ein zehntausendfaches NEIN

Zu Recht wird die EU-Verfassung als eng verbunden mit den Angriffen auf die sozialen Rechte und Errungenschaften der Lohnabhängigen betrachtet. Bei Vielen ist es zum Gemeingut geworden, dass die EU-Verfassung die neoliberale Politik festschreiben und den Angriff auf die Lohnabhängigen noch einmal verstärken soll.

Die europaweite Demonstration am 19. März in Brüssel gegen den Neoliberalismus verdeutlichte diese Massenstimmung. Die französischen Gewerkschaften, allen voran die CGT-GenossInnen, haben den Kampf gegen die sozialen Angriffe zu Recht mit der Forderungen nach einem NON (Nein) zur EU-Verfassung verbunden.

Die Streiks und Demonstrationen und die drohende Niederlage beim Referendum haben Regierung und Präsidenten in die Defensive - und damit einen weiteren Grund für das NEIN bei vielen WählerInnen ins Spiel gebracht.

Ein Sieg der VerfassungsgegnerInnen beim Referendum würde nicht nur das imperialistische EU-Projekt in Schwierigkeiten bringen, es würde auch die französische Regierung weiter schwächen, wenn nicht sogar zum Rücktritt zwingen.

Um solche Hoffnungen zu zerstreuen, hat Chirac gedroht, im Falle eines NEIN auf "keinen Fall zurück zu treten". Die Regierung Raffarin dürfte eine Abstimmungsniederlage jedoch nur schwer überleben.

Bewegung gegen die Verfassung

Heute gibt es über 600 lokale Komitees für eine NEIN gegen die Verfassung, die von der Kommunistischen Partei, einem Teil der SP, von Gewerkschaften, attac bis hin zur radikalen Linken, insbesondere der LCR (Ligue Communiste Revolucionaire, in D: RSB und isl) getragen werden. Auch Lutte Ouvrier, die sich in der Vergangenheit oft einer Positionierung zu wichtigen politischen Fragen enthalten hat, ruft zum NEIN auf.

Von großer Bedeutung war die Haltung der CGT. Deren Führung um Bernard Thibauld hatte lange versucht, die größte Gewerkschaft Frankreichs dazu zu bewegen, keine Position zum Referendum einzunehmen und sie mehr und mehr an die Positionen des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) heranzuführen.

Seit Jahren wird vom rechten Flügel von der "sozialen Dimension" der Verfassung geschwafelt. Damit wollte man den BürokratInnen des EGB entgegenkommen, eine Vollmitgliedschaft der CGT vorbereiten und die größte und kampfstärkste Gewerkschaft Frankreichs in der Bewegung gegen die Verfassung außen vor lassen.

Im Februar 2005 stimmte das "Comité confédéral national" - das oberste Entscheidungsgremium, das zwischen den Kongressen der CGT politisch-strategische Entscheidungen fällt - jedoch für ein NEIN zur Verfassung und erteilte Thibauld eine klare Abfuhr. 78 Mitglieder des Gremiums stimmten für NEIN, 18 für den Verzicht auf eine Empfehlung, 17 enthielten sich.

Der Stimmungswandel hat auch die EU-GegnerInnen in der Parti Socialiste und bei den Grünen ermutigt. Der ehemalige Ministerpräsident Laurent Fabius und andere politische Halsabschneider versuchen nun natürlich auch, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, um später die Früchte der Bewegung zu ernten, den Vorsitzenden der SP und EU-Unterstützer Hollande und, wenn möglich, Raffarin zu beerben.

Natürlich können solche UnterstützerInnen des NEIN nicht gegen die Richtigkeit einer Kampagne gegen die EU-Verfassung ins Feld geführt werden. In jedem Fall wäre ein NEIN ein Teilerfolg und eine unmittelbare Schwächung des französischen wie des europäischen (und damit auch des deutschen) Imperialismus.

Aber die Kampagne gegen das NEIN hat eine reale Schwäche, die es Reformisten wie Fabius erlauben könnte, die Dynamik der Mobilisierung zu brechen und ihr Potential zu hintertreiben, die Verbindung zwischen ökonomischem Abwehrkampf und dem Kampf gegen eine zentrales Projekt der herrschenden Klasse zu blockieren.

Falsche Alternativen

Die fatalste und rechteste Variante davon stellen zweifellos jene Linken dar, die dem Kampf gegen die EU-Verfassung die "Verteidigung der Republik und der Nation" entgegenstellen, wie z.B. die lambertistische Arbeiterpartei (in Deutschland sind das die AnhängerInnen von "Soziale Politik und Demokratie" in der SPD). Eine solche Positionierung ist offenkundig nationalistisch und muss entschieden bekämpft werden.

Andere Linke wie die KP, die LCR oder attac verbinden das NEIN mit der hohlen Formel für ein "soziales Europa". Diese Formel lässt - bestenfalls - offen, welche Klasse in einem solchen Europa herrschen soll. Doch wer das offen lässt, belässt es im Grunde nur dabei, dass jene, die heute herrschen, auch zukünftig herrschen. Das "soziale" Europa läuft also auf nichts anderes als auf ein bürgerliches, ein imperialistisches Europa hinaus.

Einem solchen Europa können KommunistInnen, können RevolutionärInnen nie ihre Zustimmung geben! Ein solches Europa wäre nur "sozial" für eine mehr oder weniger große Minderheit der Mittelschichten und besser gestellten ArbeiterInnen, die auf Kosten der Masse der Lohnabhängigen in der EU und den Milliarden auf der Welt einen "Sozialkompromiss" mit den Herrschenden aushandeln würden. Ein soziales Europa wäre ein sozialchauvinistisches Europa!

Welches Europa?

Die Formel des "sozialen" Europa dient aber als Cover für Reformisten und Gewerkschaftsführer, die den europäischen Imperialismus und Kapitalismus nicht in Frage stellen wollen.

Statt das imperialistische Europa beim Namen zu nennen und dagegen zu kämpfen, wollen sie es mit sozialer, ökologischer und sonstiger Tünche streichen. Damit wird natürlich kein Kapitalist, kein bürgerlicher Ideologe getäuscht - wohl aber werden die Ausgebeuteten über den Charakter der EU und des Kapitalismus in die Irre geführt.

Ein kapitalistisches Europa ist imperialistisch oder gar nicht. Es kann nicht "sozial", "ökologisch", "friedlich" oder "anti-rassistisch" sein. Ein solches imperialistisches Staatsgebilde kann ebenso wenig wie der deutsche Staat wegreformiert werden. Es muss zerschlagen und durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ersetzt werden.

Diese würden die Voraussetzungen schaffen für eine ausgewogene Reorganisation der europäischen und Weltwirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung.

Zentrale Probleme wie die Massenarbeitslosigkeit können nur auf dieser Grundlage wirklich gelöst werden. Nur auf dieser Grundlage wäre auch die Überwindung langjähriger nationaler und rassistischer Unterdrückung möglich.

Ein sozialistisches Europa würde z.B. das Selbstbestimmungsrecht der Basken realisieren, er würde die Möglichkeiten einer Überwindung des nationalen Haders am Balkan schaffen, indem es einerseits den verschiedenen Nationen ihr Selbstbestimmungsrecht, andererseits die Möglichkeiten eines freiwilligen Zusammenschlusses schaffen würde, ohne dass die Profitinteressen der imperialistischen Kapitale wie der nationalen Bourgeoisien dazwischenkommen.

Dazu muss die Macht des europäischen Imperialismus und des Kapitals gebrochen und durch die Räteherrschaft der Arbeiterklasse ersetzt werden!

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Nr. 100, Mai 2005

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