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Berlin

Eine Sankt-Gregor-Erscheinung zum Kirchentag

Gerald Waidhofer, Infomail 947, 27. Mai 2017

Mitten in dem medial inszenierten Kirchentag in Berlin fällt ein Vorstoß aus der zweiten Reihe  ins Auge. Wo sich Obama und Merkel als demokratische Alternative zu Trump und Putin abfeiern, über das Verhältnis von ChristInnen zur AfD diskutiert wird, will auch Linkspartei nicht abseits stehen. In einem Interview der Berliner Zeitung präsentiert sich Gregor Gysi, seines Zeichens Vorsitzender der Europäischen Linken, nicht nur ausgesprochen versöhnlich gegenüber dem religiösen Massenaufmarsch, sondern betont auch noch den unverzichtbaren Wert von Kirche und Religion.

Auf Kirchen könne man demnach nicht verzichten wegen der von ihr vertretenen allgemeinverbindlichen und bewahrenden Moralnormen – weil die Linke dazu im Sozialbereich nicht mehr in der Lage ist. Soweit er damit auf die kleinbürgerlichen Moralvorstellungen des stalinistischen DDR-Regimes anspielt, mag der qualitative Unterschied tatsächlich übersichtlich sein, sich aber als Vertreter einer linken Partei offen für einen ideologischen Rückschritt einzusetzen, erscheint doch wunderlich.

Mit Bezug auf Marx betont er, dass sich das Volk eine Religion wie das Opium suche und unterstreicht hierbei legitimierend dessen Sehnsucht danach und seine Furcht vor einer gottlosen Gesellschaft. Es ist aber eine Sache, eine solche bestehende Sehnsucht und gläubige Menschen zu respektieren, und eine andere, zur deren weiteren Herstellung aufzurufen. Immerhin hat Marx grundlegendste Beiträge dazu hervorgebracht, ein aktivierendes Klassenbewusstseins im Proletariat zu erweitern und damit solche lähmenden Sehnsüchte unnötig werden zu lassen. Die  Vorstellungen einer ewigen und allgemeingültigen Ethik für alle Menschen entlarvte er als unhistorisch und herrschaftsstabilisierend.

Während Gysi erklärt, dass die Menschen Religion und diese Art der Begegnung bräuchten, würde Marx dem entgegenhalten, dass vielmehr eine gesellschaftliche Unterdrückung religiöse Ideologien braucht und den religiösen Menschen hervorbringt. Genauer gesagt bedürfen vor allem vorkapitalistische Ausbeutungsverhältnisse eines religiösen Scheins, um die offensichtlich soziale und politische Ungleichheit ideologisch als gottgewollt zu rechtfertigen. Da für Gysi die Herstellung von Klassensolidarität und einer proletarischen, auf die Umwälzung der Verhältnisse gerichtete Kampfmoral im voraus unmöglich erscheint, muss er auf allgemein menschliche, scheinbar über den Klassengegensätzen stehende Moralvorstellungen zurückgreifen, um in eine unvernünftigen Gesellschaft ein „vernünftiges“ Zusammenleben hinzukriegen. Er nimmt dabei zu einer im Grunde vorkapitalistischen Ideologie zuflucht, die jedoch bis heute zur Rechtfertigung bürgerlicher Herrschaft unverzichtbar ist. Er geht mit seiner Positionierung nicht nur vor Marx zurück, sondern letztlich auch vor die Aufklärung. Wenn Kant die Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit beschreibt, plädiert Gysi wieder für den Eingang.

Für die großen christlichen Strömungen hat er dabei auch Versöhnliches vorzuschlagen. KatholikInnen seien nämlich durch die geniale Erfindung der Beichte sündenloser und damit humorvoller, ProtestantInnen seien wiederum beispielsweise in der Gleichstellung der Geschlechter fortschrittlicher. Wenn also die ProtestantInnen etwas mehr von den doppelmoralischen Charaktermasken des Katholizismus annehmen und die KatholikInnen ihre irreale Sexualethik anpassen würden, wäre eine gemeinsame Perspektive offenbar einfacher.

In seiner deutlicheren Nähe zum Protestantismus bezieht sich Gysi besonders wohlwollend auf Luther, der durch die Bibelübersetzung die Kirche volksnäher gemacht habe und durch seinen kritischen Geist parteilos ungebunden geblieben sei. Dabei bleiben jedoch mindestens dessen religiösen Rechtfertigungen von Klassenprivilegien und besonders dessen bauernfeindliche, frauenfeindliche und antisemitische Hetztiraden unerwähnt.

Um im christlichen Umfeld eine zusätzliche Anhängerschaft zu gewinnen, fügt Gysi dann noch eine Vorstellung hinzu: Jesus wäre heutzutage ein kritisches Mitglied in der Partei die Linke. Es wäre tatsächlich gut vorstellbar, dass ein Jesus sehr willkommen sein könnte. Wer nämlich über Wasser gehen, vielerlei Wunder wirken und außerdem als Toter wieder auferstehen kann, ist als unverwüstlicher Alleskönner sicherlich ein angesehenes Mitglied und könnte vielleicht sogar den lang ersehnten „Politikwechsel“ im Parlament samt „Transformation“ der Gesellschaft herbeizaubern. Allerdings müsste sich in diesem Fall der gottlose Gysi noch etwas mehr bemühen, auch dafür den erforderlichen Glauben einzufordern.

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